Table Of ContentSteffen Greschonig, Christine S. Sing (Hrsg.)
Ideologien zwischen Liige und Wahrheitsanspruch
KULTURWISSENSCHAFT
Steffen Greschonig, Christine S. Sing (Hrsg.)
Ideologien zwischen Liige
und Wahrheitsanspruch
Deutscher Universitats-Verlag
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1. Auflage September 2004
Aile Rechte vorbehalten
© Deutscher Universitats-Verlag/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004
Lektorat: Ute Wrasmann I Anita Wilke
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ISBN-13:978-3-8244-4581-3 e-ISBN-13:978-3-322-81345-9
001: 10.1007/978-3-322-81345-9
Vorwort
Das Entstehen dieses Sammelbandes geht auf das Bestreben einiger Kol
legiaten des DFG-Graduiertenkollegs "Kulturen der Luge" zuruck, die Ver
knupfungen des Ph~nomens der Ideologie mit dem der Luge zu einem Ta
gungsgegenstand zu machen. Die Internationale Konferenz "Ideologien zwi
schen Luge und Wahrheitsanspruch" fand yom 3. bis zum 5. Juni 2003 im
"Haus der Begegnung" der Universit~t Regensburg statt.
Der Komplexit~t der Ph~nomene geschuldet, versammelt der vorliegende
Band in einem wei ten interdisziplin~ren Bogen Beitr~ge aus den verschieden
sten Wissenschaftsdisziplinen. Ideengeschichtliche Aspekte aufgreifend fo
kussieren Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft das Ph~nomen
der Ideologie im Spannungsfeld von Luge und Wahrheitsanspruch ebenso,
wie insbesondere die linguistische Diskursanalyse, die Politik- und Ge
schichtswissenschaft sich mit den diskursiven Praktiken von Ideologie und
Ideologien auseinandersetzen. Dass die Asthetik der Ideologie und die As
thetik in der Ideologie veritable "Kulturen der Luge" konstituieren, zeigen
insbesondere die kultur-und literaturwissenschaftlichen Beitr~ge auf.
Der Ertrag dieser Publikation ist neben dem der Autoren zu einem groBen
Teil Verdienst der Projektgruppe "Ideologie", welche die Konferenz konzep
tionalisierte und durchfuhrte. Insbesondere Alexander Flierl, Vitezslav
Horak, Kerstin Kratochwill, Erwin Petzi und Katharina StrauB gebuhrt unser
freundschaftlicher und kollegialer Dank ebenso wie allen Beitragenden.
Herzlicher Dank geht ferner an die Moderatoren der Tagung Prof. Dr. Dr.
Robert Hettlage, Prof. Dr. Roswitha Fischer und Prof. Dr. Rainer Hammwoh
ner und den Sprecher des Graduiertenkollegs Prof. Dr. Jochen Mecke fur sei
ne Best~rkung und Untersttitzung bei der Realisation des Buchprojekts. Ra
dovan Kubani loste so manch kniffliges technisches Detail. Anita Wilke yom
DUV sei fur die hilfreiche und unkomplizierte Betreuung des Bandes ge
dankt. Das gesamte Projekt wurde von der Deutschen Forschungs
gemeinschaft und der Universit~t Regensburg gefordert - auch hierfur ein
Dankeschon.
Steffen Greschonig, Christine S. Sing
Inhalt
Einf"Uhrung 1
I Luge, Wahrheit und Ideologie(geschichte)
Marc Schweska (Berlin)
Wahrheit und Luge als Ideologie
Das Beispiel des "Machiavellismus" 5
Sascha Jurgens (Zurich)
Fromme Skepsis und die Ideologie der Philosophen:
Methoden und Resultate der Philosophiekritik
des Abu ijamid al-Gazali 27
Friedrich Pohlmann (Freiburg)
Die grofSen und die kleinen Lugen -
TotaliUire Ideologien und Verhaltensmuster
der Beherrschten in der totalitaren Diktatur 49
Steffen Greschonig (Regensburg)
Ideologie und Utopie - Karl Mannheims
(Wissens)Soziologie jenseits der Luge 67
Peter Zigman (Regensburg)
Die "Interessiertheit der Wahrheit" und
die Interessen der Wissenschaftler 85
Ciprian Cirniala (Regensburg)
Der rumanische Kommunismus als
Lugen- und Mythenkultur? 103
II Ideologien zwischen Wahrheitsanspruch
und diskursiver Praxis
Seyhan Bayraktar (Konstanz)
Der Massenmord an den Armeniern von 1915/16
im Spiegel der tUrkischen Presse 111
VIII Inhalt
Antje Michel (Berlin)
GerUcht und Information im KZ Sachsenhausen.
Kritische Reflexionen eines dualen Kommunikationsmodells 135
Annette Becker (Frankfurt)
To Challenge or Not to Challenge-
Two TV Interviews with German Chancellor
Gerhard Schr()der in the Run-Up to Gulf War II 155
Martin Hampel (Frankfurt)
Heroes and Huns - Konstruktion
nationaler Identitat in der Sportberichterstattung 173
Tim Rohrer (San Diego)
Race-baiting, Cartooning and Ideology:
A conceptual blending analysis of contemporary
and WW II war cartoons 193
Christine S. Sing (Greifswald)
Retracing the European Map. An Ideological
Outline of the Old vs. New Europe Debate 217
III "Asthetische" Kulturen der Luge
Angela Leona Oster (Tiibingen)
Vom Begriff der Ideologie zum Faschismus
der Sprache - Destutt de Tracy, Pasolini, Barthes 233
Annegret Middeke (Plovdiv)
Zeichen der Wahrhaftigkeit in der bulgarischen
Lyrik des Totalitarismus 253
Christoph Zeller (Nashville)
Abmessung eines Kampfgebiets. Bemerkungen zu Literatur
und Terrorismus am Beispiel von Nicolas Borns Die Fiilschung 271
Einfiihrung
Das 19. Jahrhundert hatte kaum begonnen, als Antoine Destutt de Tracy
mit seinen Elements d'ideologie einen "wissenschaftlichen" Wahrheitsanspruch
artikulierte. Doch kaum formuliert, wurden Autor und Auffassung sehr
schnell angefeindet. Kein geringerer als Napoleon war es, der Destutt de
Tracy mitsamt den Mitstreitern fUr diese neue - sich selbst als praxisorien
tierte Empirie verstehende - Gegenbewegung zum cartesianischen Ratio
nalismus als "Ideologen" verunglimpfte. Die sich gerade erst etablierende
"Lehre von den Ideen" wurde mit dem Stigma der Metaphysik, der Traume
rei, des Umsturzes und des Vorwurfes eines uberkommenen Jakobinismus
belegt.1
Der auf seinen Machterhalt bedachte Kaiser der Franzosen unterstellte
der neuen Wissenschaft gar ein MaB an (intentional gesteuerter) Falschheit,
das den bloB en Irrtum transzendierend in seiner Scharfe den Vorwurf der
Luge mit in sich tragt. Die Kampfzone der Ideologie zwischen den Grenzen
von Wahrheitsanspruch einerseits und Luge andererseits schien fortan abge
steckt zu sein.
Nichtsdestoweniger hatten Ideologien schon von jeher Wahrheitsanspru
che formuliert, die im Verlauf ihrer Wirkungsgeschichte entweder als IrrtU
mer buchstablich "Lugen gestraft" wurden oder von den ideologischen Ge
genentwtirfen gar als solche bezeichnet wurden. Dass dieses dialektische
Phanomen nicht erst am Morgengrauen der Moderne, in der Folge der fran
zosischen Revolution virulent wurde, zeigte die an der Universitat Regens
burg im Juni 2003 abgehaltene Tagung "Ideologien zwischen Luge und
Wahrheitsanspruch", deren Ergebnisse in diesem Band dokumentiert wer
den.
I Luge, Wahrheit und Ideologie(geschichte)
1m ersten Themenkomplex werden ideologiegeschichtliche Aspekte von
Philosophie, Staatsdenken und Wissenschaft im Spannungsfeld ihrer jeweils
formulierten Wahrheitsansprtiche und Lugen(vorwurfe) beleuchtet; und das
gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen erhellen ideologiereflexive Theorien
die Bedingungen der Moglichkeit, die Luge zweckdienlich zu funktionalisie
ren, zum anderen ist die Luge selbst Element schweigender Spuren in ideo-
Vgl. B. Schlieben-Lange, Ideologie. Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftsprozefl,
Heidelberg 2000, S. 3££. und T. Eagleton, Ideologie. Eine Einfiihnmg, Stuttgart/Weimar
1993, S. 81£.
2 Steffen GreschonigiChristine S. Sing
logischen Texten; Teil dessen, was nicht ausgesprochen wird. So veran
schaulicht der Beitrag Marc Schweskas zum Machiavellismus, wie die Recht
fertigung von Tauschung und Geheimhaltung die Konstituierung der fruh
neuzeitlichen Arcanpolitiken bef(jrderte, urn diesen Geltungsanspruch selbst
gegen die Moral der Kirche erfolgreich zu verteidigen. Das Staats
rasondenken der frUhen Neuzeit trug zur Produktion "privatpolitischer"
Klugheitslehren bei, deren Auswirkungen sich noch im Handeln moderner
Geheimdienste nachweisen lasst.
Sascha JUrgens blickt zuruck ins islamische Mittelalter. Er zeigt, wie im
Zweistromland des 5. arabischen Jahrhunderts Ideologiekritik zur Philoso
phiekritik ausgeweitet wurde. Die Schriften des sunitischen Religionserneue
rers Abu J:iamid al-Gazali sind nicht nur eine Abrechnung mit den Theorien
seiner Gegenspieler, sondern gar als pra-moderner Beitrag zu M(jglichkeiten
und Grenzen rationaler Erkenntnis schlechthin rezipierbar.
Die Fokussierung psychosozialer Strukturen in Ideologien erm(jglicht ei
ne RUckfUhrung von sowohl Links- als auch Rechtstotalitarismus auf die
ideologischen Muster der franzosischen Revolution. In dieser epochalen Rup
tur hat fUr Friedrich Pohlmann die sozialistische Ideologie durch Rousseaus
Sakralisierung des Volkswillens in der volonte generale gleichermaBen ihre
diskursiven Wurzeln wie der Radikalfaschismus der Nazis im rechtsto
talitaren "Mythos der Nation".
Die Wissenssoziologie Karl Mannheims lieferte zu Zeiten der Weimarer
Republik einen wertvollen Beitrag zur Ideologielehre. Steffen Greschonig
begibt sich auf Spurensuche nach der Stellung der LUge innerhalb dieses
Ansatzes. Er rekonstruiert die Marginalisierung der LUge in Mannheims
Schrift Jdeologie und Utopie.
Ideologische Spuren in der Wissenschaft sind auch das Erkenntnisobjekt
Peter Zigmans. Dessen Analyse des Verhaltnisses von Natur- und Geistes
wissenschaften zeigt, dass jede Naturwissenschaft durch die Interessen der
sie betreibenden "menschlichen" Wissenschaftler nicht von den Geisteswis
senschaften isoliert betrachtet werden kann. Den Glauben daran, dass dies
dennoch moglich sei, entlarvt Zigman als einen ideologischen.
Ciprian Cirnialas Auseinandersetzung mit dem Ceausescu-Regime zeigt
auf, wie in Rumanien die sozialistische Ideologie mit den Versatzstlicken der
gewachsenen lateinisch-orthodoxen Kultur amalgamiert und zum Zwecke
des Machterhalts instrumentalisiert wurde. Dass dabei eine LUgen- und
Mythenkultur entstand, die bis in die rumanische Gegenwart hinein fort
wirkt, konterkariert die vielbemUhte Rede vom Ende aller Ideologien.
Jedweder Form von Wirklichkeit(swahrnehmung) liegen letztendlich
nicht nur Ideologien zugrunde, sondern auch die LUge.2
2 Vgl. F. Nietzsche, "Ueber Wahrheit und Luge im aussermoralischen Sinne", in: ders.,
Einfiihrung 3
II Ideologien zwischen Wahrheitsanspruch und diskursiver Praxis
Das Leitmotiv der zweiten Sektion dieses Bandes widmet sich vor allem
dem Phanomen in seiner medial vermittelten Offentlichkeit. Seyhan Bayrak
tar expliziert ihren Befund anhand eines unruhmlichen Kapitels ttirkischer
Vergangenheitsbewaltigung: der Leugnung des Armenier-Genozids in den
Jahren 1915/16. Die ideologisch motivierte Steuerung des kollektiven Ge
dachtnisses offenbart sich vor allem im paradoxen Versuch der ttirkischen
Pre sse, eine ethnische Sauberungspolitik zu vertuschen, indem die Vertrei
bung und Ermordung der Armenier geleugnet und verschleiert wird.
Fur Antje Michel ist das Phanomen des Geruchts ein kreativer Umgang
mit der Kommunikation. In ihrer Analyse von Berichten der Lagerinsassen
des KZ Sachsenhausen untersucht sie die produktive Dimension der Ge
ruchtekommunikation. Nicht die Frage, ob eine Information wahr oder falsch
ist, ist maBgeblich fur die Bewertung von Geruchten in einer derart extremen
Kommunikationssituation. Vielmehr zeigt sich, dass Geruchte eine Hoffnung
stiftende Funktion haben.
Annette Becker stellt in ihrem multidisziplinaren Ansatz, der die lingui
stische Pragmatik mit der Gesprachs- und Konversationsanalyse ebenso wie
der kritischen Diskursanalyse und "Appraisal Theory" verbindet, anhand
zweier Interviews mit Gerhard Schroder dar, wie sich die ideologische Orien
tie rung der jeweiligen Interviewpartner auf die Gesprachsstrategien aller
Beteiligten auswirkt.
Martin Hampel untersucht in seinem Beitrag die FuBball-Berichterstat
tung in der Boulevardpresse. Mittels einer diskursanalytischen Tiefenana
lyse, die die Rekonstruktion nationalistischer Stereotypen in den Blattern The
Sun und Bild fokussiert, zeigt er, wie Sportereignisse qua journalistischer
Sprachverwendung ideologisch aufgeladen werden, urn sowohl identitats
stiftend als auch diskriminatorisch zu wirken.
Tim Rohrer fokussiert die historischen Aspekte von medial inszenierter
Offentlichkeit, indem er die subversive Kraft politischer Cartoons herausar
beitet. Deren hintergrundiger Humor ensteht durch Ubedappung visueller
und konzeptueller Metaphern aus unterschiedlichen mentalen Domanen
Auch Christine S. Sings Ansatz ist im Bereich der Kognitiven Linguistik
anzusiedeln, obgleich mit stark soziolinguistischer Ausrichtung. In ihrer
Analyse des kulturell determinierten kognitiven Modells NEWISM zeigt sie
auf, wie Diskurse mit einer ihnen eingeschriebenen ideologischen Wertigkeit
konstruiert werden. Eine exemplarische Darstellung dessen erfolgt in ihrem
Beitrag anhand der politischen Debatte des neuen vs. alten Europas, die den
fundamental antagonistischen Charakter von Ideologie illustriert.
Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. III/2,
Berlin und New York 1973, S. 365-384, hier: S. 371.