Table Of ContentGRUNDRISS EINER
METEOROBIOLOGIE
DES MENSCHEN
WETTER- UND JAHRESZEITENEINFLOSSF
VON
PROFESSOR OR. B. OE RUOOER
DIREKTOR DER UNIV.-KINDERKLINIK FRANKFURT A.M.
DRITTE NEUBEARBEITETE AUFLAGE
MIT 56 ABBILDUNGEN
Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH
ISBN 978-3-642-92581-8 ISBN 978-3-642-92580-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-642-92580-1
ALLE .RECHTE, INSBESONDERE DAS DER üBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN.
COPYRIGHT 1931, 1938 ADN 1952 by SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG
Ursprünglich erschienen bei Springer-Verlag OHG., Berlin . Göttingen . Heidelberg 1952.
w. HELLPACH
DEM ERGRUNDER UND BELAUSCHER DER GEOPSYCHE
DANKBAR FUR SO OFT BEZEUGTE FREUNDSCHAFT
ZUM 75.GEBURTSTAGE
GEWIDMET
V orwort zur dritten Auflage.
Zu der vorliegenden Neubearbeitung konnte Verfasser sich erst nach
Überwindung mancher Hemmungen entschließen. Diese lagen einmal in
dem außerordentlichen Anschwellen einzubeziehender Literatur, die bei
den gegenwärtigen deutschen Bibliotheksverhältnissen bestimmt nicht
vollständig erreichbar sein würde (während die eigene Bibliothek ein
schließlich Sonderdrucksammlung dem Krieg zum Opfer fiel); sie lagen
andererseits in dem Umstand, daß die Meteorobiologie sehr stark durch
methodisch unzulängliche Arbeiten belastet wurde, deren Nichtberück
sichtigung oder deren Anführung mit dann nötiger Kritik den Anschein
envecken konnte, als wolle Verfasser Ansichten anderer nicht gelten
lassen.
Erst die immer wieder erfolgenden Nachfragen nach dem Buche und
die vielen Bitten um methodischen Rat haben die Hemmungen langsam
hinwegräumen müssen.
Waren auch viele Abschnitte völlig neu zu bearbeiten, so blieben ins
gesamt die schon für die beiden vorangegangenen Auflagen von 1931 und
1938 auferlegten Beschränkungen auf mitteleuropäische Verhältnisse
oder doch auf die gemäßigten Zonen, auf die Verhältnisse beim Menschen
und hier wieder vorwiegend auf körperliche Vorgänge beibehalten. Über
"die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden
und Landschaft" ist in Hellpachs seit 1911 nunmehr 6. Auflage der
"Geopsyche" (1950) ein vorzüglicher Führer von ganz einmaliger Prä
gung vorhanden. Ihr Autor hatte die große Freundlichkeit, die Auflage
dem Verfasser zu widmen, der mit dem vorliegenden Band durch seine
Widmung von einer großen Dankesschuld ein wenig abtragen möchte.
Möge im übrigen die neue Auflage eine so wohlwollende Aufnahme
wie die früheren finden.
Frankfurt am Main, 1952.
B. de Rudder.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
EInleitung ........................................................ 1
L Deduktive und induktive Meteorobiologie .......................... 3
1. Deduktive Forschungswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
2. Induktive Forschungswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
IL Wettervorginge und Mensch (Meteorotrope Krankheiten) •........... 9
1. Die "Gruppenbildung" ..................................... 9
2. Die primäre Fragestellung und Irrwege bei ihrer Beantwortung.. 12
3. Grundlehren moderner synoptischer Meteorologie ........... , . . . 16
0.) "Luftkörper" und zyklono.le Vorgänge in der Atmosphä.re. . . . . 16
1. Die grundlegenden Vorgänge und ihre Abwandlungen. .. . . . . 16
2. Die Okklusionserscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 21
3. Weitere Komplexität zyklonaler Vorgänge in der Wirklichkeit 23
b) Föhne und Inversionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
4. Spezielle meteorobiologische Fragestellungen und heutige Metho-
den ihrer Beantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 29
a) Das Sammeln von Einzelbeobachtungen ................... 31
b) Bearbeitung der Einzelbeobachtungen . . . . . . . . . ... ... . . .. . . . 32
c) Prüfung der Überzufälligkeit ............................. 35
Sicherung mittels des sog. Gaußschen Wahrscheinlichkeitsinte
grals S. 36. - Sicherung mittels des v. Schellingschen T-Wertes
S. 38_ - Methode der überlagerten Stichtage (sog. "n-Methode"
oder Synchronisierung) S. 39. - Ermittlung des nächstgelegenen
Ereignisses S_ 42_ - Beweis durch Wiederholung S. 42.
5. Meteorotropes Reagieren und Erkranken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
0.) Erfahrungen an Kranken. . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . 43
b) Allgemeines zur Meteoropathologie ........................ 83
c) Der meteorotrope Mensch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 86
1. Physiologische Wetterwirkungen. . . . . . . . .. .............. 86
2. Angrifisweise des biotropen Wetterfaktors. . . . . . .. . . .. .. ... 92
3. Wetter und Konstitution .............................. 98
d) Die biotropen Wettervorgänge ............................ 102
e) Über die Natur des biotropen Wetterfaktors ................ llO
Luftdruckschwankungen S. 112. - Luftelektrizität (atmosphä
rische Elektrizität) S. B3. - Solarterrestrisches Korrelations
netz S. 118.
Inhaltsverzeichnis. VII
Seite
m.
Jahreszeit und Mensch (Saisonkrankheiten) 123
A. Formale Feststellung und formale Analyse von Saison-
schwankungen ............................................ 124
Überzufälligkeit S.125. - Statistische Schüttelmethoden S. 129.
Biologische Jahreszeiten S. 135.
B. Allgemeines zur kausalen Analyse von Saisonschwan-
kungen .................................................... 137
1. Die Irreleitung durch "automatische Korrelationen". . . . . . . . . . .. 137
2. Kausale Analyse bei Infektionskrankheiten (Lokalismus-Konta-
gionismus-Neolokalismus) .................................. 144
3. Täuschungen durch das" Summenjahr". "Pseudosaisonkrankheiten" 152
C. Die echten Saison krankheiten .........................•. 158
1. Die Sommergipfel von Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 165
2. Die Winter-Frühjahrs-Relation im biologischen Geschehen •..•.. 187
a) Bioklimatik der Dornostrahlung ........................... 188
a) Das Rachitisproblem S. 188.-ß) Die physiologische "Winter
ruhe" im Knochensystem S. 194. - 7) Die "Winterruhe" im
Stoffwechsel S. 197. - Cl) Heilung der Winterschäden im Früh
jahr und deren Folgen (Das Tetanieproblem) S. 205. - e) Die
wiederkehrende Dornostrahlung als hormonaler Reiz S. 211. -
C) Grenzgebietliche Fragen zur Winter-Frühjahrs-Biologie S. 218.
- f}) Jahreszeitliche Allergieschwankung und verwandte Pro
bleme S. 223.
b) Der Wintergipfel akuter Infektionskrankheiten. . . . . . . . . . . . . .. 232
D. Allgemeine "biologische" Form jahreszeitlicher Krank
heitswellen und deren Entstehungsweise •................ 248
E. Versuch und Grenzfragen zu einer allgemeinen Jahres-
zeitenbiologie des Mensche.n ............................. 254
Meteorobiologie im ärztlichen Handeln ,,Meteorobiologische Prophylaxe" .. 261
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 268
Sachverzeichnis .................................................... 297
Einleitung.
Alles Leben spielt sich ab in einer zeitlich veränderlichen Umgebung.
Jenen Ausschnitt der Umgebung, der unmittelbar oder auch mittelbar
auf ein Lebewesen wirkt oder der im ausdrücklichen, sozusagen im funk
tionalen Nullwertsinne nicht wirkt, bezeichnen wir als die "Umwelt"
eines Lebewesens. Sie prägt die idiotypisch gegebenen Reaktionsmöglich
keiten eines Organismus zum Phänotypus.
Einen nicht unwesentlichen Teil dieser - worauf wir uns hier be
schränken - menschlichen Umwelt bildet die Atmosphäre, all das, was
wir als Klima, Jahreszeit und Wetter zu bezeichnen gewohnt sind. E!l ist
nicht uninteressant, daß der Begriff Klima- die Entstehung des Wortes
ist ungeklärt - bereits von ALEXANDER VON HUMBOLDT1 ausdrücklich
im Wirkweltsinne definiert wird:
,r "Der Ausdruck Klima bezeichnet in seinem allgemeinsten Sinne alle
eränderungen in der Atmosphäre, die unsre Organe merklich affizieren."
So wurde HUMBOLDT zum Begründer jener noch heute als Klimatolo
gie bezeichneten Wissenschaft, welche seitdem sich bestrebt, eben diese
Veränderungen der Atmosphäre messend zu verfolgen und die gewonne
nen Meßergebnisse zu verarbeiten. Die damit übernommenen Aufgaben
wuchsen als solche mit dem Messen und Verarbeiten, dem GoETHE sehen
"im Endlichen nach allen Seiten Gehen".
Die Seite des "merklichen Affizierens unsrer Organe" trat mehr und
mehr zurück hinter den aus der Erforschung der Atmosphäre unmittelbar
erwachsenen Aufgaben, der Name Klimatologie verblieb. Ja als Klima
verstand man mehr und mehr da,s Bleibende im Wechsel der Atmosphäre,
das Statische, das aus der Gesamtheit atmosphärischer Änderungen sozu
sagen als Mittelwert und bezogen auf einen bestimmten Ort der Erdober
fläche sich Herausschälende. Nur so ist es verständlich, daß unser Jahr
hundert den in den beiden letztvergangenen Jahrzehnten bereits ganz
geläufig gewordenen Begriff der Bioklimatologie oder Bioklimatik als
einen neuen Wissenszweig schaffen mußte, eine Tautologie also eigent
lich, nämlich wieder die Wissenschaft von den Einflüssen der Atmo
sphäre auf das Leben.
Die Begrenzung des Klimabegriffes auf das Statische, Bleibende einer
atmosphärischen Umwelt brachte es mit sich, daß man heute den Ein
fluß dieser Seite der Atmosphäre zumeist dann als Klimatobiologie be
l v. HUMBOLDT, ALEXANDER: Kosmos 1, 340 (1845).
de Rudder. Meteorobiologie. 3. Aut!.
2 Einleitung.
zeichnet - man denke an die Klimatobiologie der Tropen, einer Insel
welt, eines Küstenstreifens und dergleichen. Diesem Klima steht dann
eine Vielzahl von Vorgängen in der Atmosphäre gegenüber, welche durch
den ihr innewohnenden Faktor der Änderung sich als dynamisch kenn
zeichnen; von diesen bzw. ihrer Äußerung am Menschen soll im nach
stehenden ausschließlich die Rede sein. Merkwürdigerweise fehlt aber eine
Wortprägung für die Gesamtheit dieser Vorgänge in der Atmosphäre, also
für all jenes, was wir nicht erschöpfend als Wetter und Jahreszeit be
zeichnen zusammen mit all jenen Änderungen, welche nur noch das mes
sende Instrument empfindet und welche daher in der Alltagssprache über
haupt keinen Niederschlag gefunden haben. Da sich mit all diesen Vor
gängen die "Meteorologie im engeren Sinne" beschäftigt, das heißt, soweit
sie eben nicht Klimatologie ist-eine Unterscheidung, die heute schon ziem
lich gebräuchlich geworden ist-, habe ich diese Vorgänge unter der Bezeich
nung "Meteorismen" zusammenzufassen versucht. Jener Forschungs
zweig, welcher die Einwirkung aller Meteorismen, aller atmosphärischen
Änderungen auf die Lebenswelt untersucht, wäre dann die Meteorobiologie.
Der Begriff hat den Vorteil, daß man ihn sinngemäß in Meteorophysiologie und
Meteoropathologie aufteilen kann und daß diese Bezeichnungen ohne weiteres als
Adjektiva gebraucht werden können, was für rasche und klare Verständigung mit
"Kennworten" immer angenehm ist. So hat der Begriff denn auch allgemeine An
wendung gefunden.
Die bekanntesten atmosphärischen Vorgänge "Wetter" und "Jahres
zeiten" heben sich in bioklimatischen Fragestellungen durch einen in
erkenntniskritischer Hinsicht wesentlichen Umstand heraus: Die Frage
nach solchen Einflüssen wurde durch unmittelbare Beobachtungen am M en
schen und seinem Erkranken aufgeworfen und drängte zur Stellungnahme
bzw. Beantwortung.
Im übrigen sollte man sich sprachlich daran gewöhnen, daß Ereig
nisse, Vorgänge, Zustände in der Atmosphäre nur als meteorisch bezeich
net werden können; meteorologisch können nur Messungen, Meinungen.
Erkenntnisse, Theorien sein.
Auf einer sozusagen anderen Ebene der Wahrnehmung stehen dann
weitere Fragestellungen, welche auf umgekehrtem, mehr theoretischem W fge
zustande kommen. Nachdem nämlich die Tatsache eines Einflusses von
Wetter oder Jahreszeit auf den Menschen feststand, konnte man weiter
fragen, ob noch andere möglicherweise über die Atmosphäre zur Auswir
kung auf den Menschen kommende Einflüsse vorhanden sind. Diesewer
den dann nicht durch unmittelbare Beobachtung des Arztes aufgedrängt,
sie entziehen sich geradezu dieser unmittelbaren Wahrnehmbarkeit über
haupt, und ihreExistenz kann erst als erwiesen gelten, wenn sie mittels sorg
fältigster und kritischer naturwissenschaftlicher Methode belegbar sind.
Dieser grundlegende Unterschied ist methodologisch sehr zu beachten.
I. Deduktive und induktive Meteorobiologie.
In dem ganzen Fragenkomplex der Einwirkung meteorischer Vor
gänge auf den Menschen scheint vor allem manche begriffliche Klärung
sehr notwendig. In diesem Sinne seien einige allgemeine Erörterungen
vorausgeschickt.
Für die zu studierenden metflOrischen Einflüsse ist zunächst grund
sätzlich zu trennen zwischen
'1. unmittelbaren Beeinflussungen, nämlich direkt auf den mensch
lichen Organismus erfolgenden Wirkungen, und
2. mittelbaren Beeinflussungen, das heißt solchen, die sich entweder
auf menschliche Lebensverhältnisse und -gewohnheiten oder auf andere
Organismen erstrecken, wobei diese letzteren dann erst Krankheitsvor
gänge am Menschen verursachen.
Für diese mittelbaren, hier erst in zweiter Linie interessierenden Einwirkungen,
welehe unter Umständen einen meteorisehen Einfluß auf den Menschen vortäuschen
können und von denen später verschiedentlich zu sprechen sein wird, lassen sieh
zahlreiche Beispiele anführen:
\Venn etwa eine Krankheit durch einen tierischen Zwischenwirt auf den Menschen
übertragen wird, so hängt ihr Vorkommen ab von der Existenz dieses Zwischen
wirtes. Wenn dabei letzterer in seinem Vorkommen von klimatischen Bedin
gungen beeinflußt wird, so muß sich das indirekt auf das menschliche Erkranken
auswirken. Eine nahezu unerschöpfliche Fülle soleher Zusammenhänge bietet die
Lehre von tropischen I nJe ktionskrankheiten. Interessenten finden viele lehrreiche
Beispiele dieser Art in der ausgezeichneten Schrift .MARTINIS "Wege der Seuchen",
auf die ich noch wiederholt zurückkommen werde. Der Begriff der "miasmatischen"
Krankheiten, den die Medizin des vorigen Jahrhunde~ts als für damals ausgezeich
nete Arbeitshypothese entwickelt hat, steht in engster Beziehung zu dieser Frage,
wie wir später noch sehen werden (vgl. S. 147). Wenn endlich die Existenz solcher
belebter Krankheitsüberträger im Einzelfalle noch unbekannt ist, können unmittel
bare Beeinflussungen des Menschen eben sehr leicht vorgetäuseht werden. \Vie lange
etwa hat die Aufklärung des "Sumpffiebers" als Infektionskrankheit gebraucht
und welche Mühe war für diese Erkenntnis aufzuwenden gewesen.
Uns interessieren vorerst die unmittelbaren Beziehungen von atmo
sphärischem Geschehen und Mensch.
Zunächst wird für diese unmittelbaren Einflüsse meteorischer Vor
gänge auf den Menschen ganz allgemein die Frage interessieren, wie wir
zu Erkenntnissen dieser Beziehungen kommen, welche methodischen
Schwierigkeiten sich der Untersuchung in den Weg stellen und welcher
Wahrheitsgehalt so gewonnenen Feststellungen zukommt bzw. von ihncn
zu erwarten ist.
I •