Table Of ContentFinanzmathematik
Die Bewertung von Derivaten
Von Prof. Dr. rer. nat. Albrecht Irle
Universität Kiel
EI3
B. G. Teubner Stuttgart 1998
Prof. Dr. rer. nat. Albrecht Irle
Geboren 1949 in Hannover. Studium der Mathematik und Physik
mit Promotion 1974 und Habilitation 1979 an der Universität
Münster in Mathematik. Nach Professuren in Bayreuth und
Münster seit 1984 Professor für Wahrscheinlichkeitstheorie und
Statistik am Mathematischen Seminar der Universität Kiel.
Die Deutsche Bibliothek - CIP·Einheitsaufnahme
Irle, Albrecht:
Finanzmathematik : die Bewertung von Derivaten / von Albrecht
Irle. - Stuttgart : Teubner, 1998
(Teubner-Studienbücher : Mathematik)
ISBN 978-3-519-02640-2 ISBN 978-3-322-94679-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-94679-9
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© B. G. Teubner, Stuttgart 1998
Vorwort
Der Einzug von modernen stochastischen Methoden in die Untersuchung von
finanzwissenschaftlichen Problemen hat zu einem äußerst fruchtbaren Zusammen
wirken von Mathematik und Finanzwissenschaften geführt. Die bahnbrechenden
und 1997 durch die Verleihung des Nobelpreises gewürdigten Arbeiten von Black
und Scholes (1973) und Merton (1973) zur Preisfestsetzung und Absicherung
von Finanzderivaten haben Theorie und Praxis der Finanzmärkte entscheidend
geprägt. In der Folge wurde das große Potential der Martingaltheorie und der
stochastischen Integration für die Untersuchung solcher Märkte erkannt, und dies
führte dazu, daß Methoden der stochastischen Analysis erfolgreich und in stetig
wachsendem Umfang in der Finanzmathematik angewandt werden.
Der vorliegende Text gibt eine Einführung in dieses anspruchsvolle und praxisnahe
Gebiet, das als Mathematical Finance bekannt ist.
Der Leser sollte Kenntnisse in Wahrscheinlichkeitstheorie besitzen, wie sie übli
cherweise in einer 1-semestrigen Vorlesung vermittelt werden. Er benötigt jedoch
keine Vorkenntnisse auf den Gebieten der stochastischen Prozesse, der Martin
galtheorie und der stochastischen Integrc.tion. Diese Gebiete werden im Text,
angelehnt an Modellierungen und Problemstellungen im Bereich der Finanzderi
vate, ausführlich behandelt, in einer, wie der Verfasser hofft, auch dem Selbst
studium zugänglichen Darstellungsweise. Die Art der Darstellung orientiert sich
an den Bedürfnissen des Mathematical Finance, verzichtet aber nicht auf mathe
matische Strenge. Kapitel 2 und 6 geben dabei eine Einführung in diskrete und
kontinuierliche Martingaltheorie. In den Kapiteln 9, 10 und 11 wird die stochasti
sche Integrationstheorie behandelt. Eine Darstellung des den gebräuchlichen Mo
dellierungen zugrundeliegenden Wienerprozesses wird in Kapitel 7 durchgeführt.
Kapitel 13 führt in stochastische Differentialgleichungen ein.
Die finanzmathematischen Problemstellungen werden jeweils behandelt, wenn die
nötigen stochastischen Kenntnisse im Text entwickelt worden sind: Kapitell gibt
eine Einführung in die Theorie der Finanzderivate und der Preisfestsetzung. Dis
krete Finanzmarktmodelle werden in den Kapiteln 3 und 4 behandelt, wobei die
Untersuchung von Derivaten des amerikanischen Typs auf die Theorie des opti
malen Stoppens führt. Eine erste Behandlung des Black-Scholes-Modell geschieht
in Kapitel 8, die vertiefte Untersuchung mit Methoden der stochastischen Ana
lysis in Kapitel 12. Verallgemeinerungen des Black-Scholes-Modells werden im
Anschluß an die Darstellung stochastischer Differentialgleichungen in Kapitel 13
betrachtet. Eine Sonderstellung hat Kapitel 5. Dort wird für den mathematisch
besonders interessierten Leser ein Beweis des Fundamentalsatzes der Preistheorie
gegeben.
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Der Text ist aus einer 2-semestrigen Vorlesung des Verfassers entstanden, die er
für Studierende der Mathematik sowie der Informatik und Physik im Anschluß
an eine 1-semestrige Ausbildung in Wahrscheinlichkeitstheorie gehalten hat. Er
hat das Ziel, dem Leser eine Basis an Kenntnissen in stochastischer Analysis
und Mathematical Finance zu vermitteln, von der aus er die Behandlung spe
ziellerer Probleme angehen kann und sich auch weiterführende Lehrbücher, wie
die inzwischen erschienenen Monographien von Karatzas (1997) und Musiela und
Rutkowski (1997), erarbeiten kann.
Meinen Mitarbeitern M. Holst, V. Paulsen und C. Schmidt danke ich für Durch
sicht, Anregungen und Rat.
Kiel, im Februar 1998 A.Irle
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung in die Preistheorie 7
2 Stochastische Grundlagen diskreter Märkte 35
3 Preistheorie im n-Perioden-Modell 56
4 Amerikanische Claims und optimales Stoppen 81
5 Der Fundamentalsatz der Preistheorie 105
6 Stochastische Grundlagen kontinuierlicher
Märkte 116
7 Der Wienerprozeß 127
8 Das Black-Scholes-Modell 148
9 Das stochastische Integral 167
10 Stochastische Integration und Lokalisation 180
11 Quadratische Variation und die Ito-Formel 194
12 Das Black-Scholes-Modell und stochastische Integration 219
13 Märkte und stochastische Differentialgleichungen 237
Literaturverzeichnis 257
Sachverzeichnis 259
1 Einführung in die Preistheorie
1.1 Finanzmärkte
Finanzmärkte haben entscheidenden Einfluß auf die globalisierte Weltwirtschaft
und damit auf die Entwicklung unseres Planeten gewonnen. Seit den bahnbre
chenden, 1997 durch die Verleihung des Nobelpreises gewürdigten Arbeiten von
Black und Scholes (1973) und Merton (1973) haben die stochastischen ModelIie
rungen von Finanzmärkten und die daraus abgeleiteten mathematischen Verfah
ren zur Preisfestsetzung von auf diesen Märkten gehandelten Finanzgütern die
Theorie und Praxis der Finanzmärkte wesentlich geprägt. Von den verschiedenen
Typen von Finanzmärkten seien hier angesprochen:
- Aktienmärkte, die Bilder vom Börsenparkett in Frankfurt oder New York sind
vertraute Illustrationen der Fernsehnachrichten,
- Rentenmärkte, die den Handel mit festverzinslichen Wertpapieren regeln,
- Währungsmärkte, die den Kauf und Verkauf von Währungen regulieren und
damit die Wechselkurse bestimmen,
- Warenmärkte, zum Handel mit Waren wie Öl und Gold.
Die auf diesen Märkten gehandelten Güter wollen wir Basisgüter nennen.
Seit der Gründung der Chicago Board Option Exchange am 26.4.1973 hat der
Handel mit in die Zukunft reichenden Kontrakten über Basisgüter und sich daraus
entwickelnd über Finanzgüter jeder erdenklichen Art enorme Bedeutung gewon
nen. Solche Kontrakte, von denen als wichtige Typen hier Optionen und Futures
genannt seien, werden als derivative Finanzgüter bezeichnet. Der Handel mit
solchen Kontrakten wird auf
- Futuresmärkten und Optionenmärkten
durchgeführt. Unser Ziel wird eine Darstellung der stochastischen Behandlung
von derivativen Finanzgütern sein. Dazu beginnen wir mit der Beschreibung von
Futures und Optionen. Als zusammenfassende Bezeichnung sowohl für Basisgüter
als auch für derivative Güter jeglicher Art werden wir den Begriff des Finanzguts
benutzen.
A. Irle, Finanzmathematik
© B. G. Teubner, Stuttgart 1998
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1.2 Forward und Future
Forwards und Futures sind Kontrakte, ein Finanzgut zu einem zukünftigen
Erfüllungszeitpunkt T bzw. innerhalb eines zukünftigen Zeitraums [T, T'] zu
einem vereinbarten Erfüllungspreis F zu verkaufen bzw. zu kaufen. Wir spre
chen dabei von einer long position bei Eingehen eines Kaufkontrakts und einer
short position bei Eingehen eines Verkaufskontraktes. Futures werden, wie schon
erwähnt, auf den zugehörigen Finanzmärkten gehandelt, was eine Absicherung
zu ihrer Erfüllung beinhaltet. Ein entsprechender Kontrakt zwischen zwei Par
teien, der auf individuellen Absprachen ohne Markteinschaltung beruht, wird als
Forward bezeichnet. Es stellt sich sofort die Frage nach der Vereinbarung des
Erfüllungspreises F bei einem Forward bzw. einem Future.
1.3 Option
Eine Option gibt dem Käufer das Recht, ein bestimmtes Finanzgut bis zu einem
zukünftigen Zeitpunkt T zu einem vereinbarten Preis K, dem Ausübungspreis,
zu kaufen oder zu verkaufen. Der Optionskontrakt beinhaltet im Unterschied
zum Forward oder Future jedoch nicht die Pflicht zu seiner Ausübung. Beim
Kaufrecht wird die Option als GaU, beim Verkaufsrecht als Put bezeichnet. Ist
die Ausübung der Option nur zum Verfallszeitpunkt T möglich, so sprechen wir
von einer europäischen Option. Kann die Option jederzeit bis zum Zeitpunkt T
ausgeübt werden, bezeichnen wir sie als amerikanische Option.
Dies beschreibt die vier grundlegenden Optionstypen, den europäischen Call und
Put sowie den amerikanischen CaU und Put.
Beim Käufer einer Option liegt in der Sprache der Finanzmärkte eine long po
sition vor, beim Verkäufer eine short position. Selbstverständlich verlangt der
Verkäufer einer Option vom Käufer einer solchen einen gewissen Preis für das im
Optionskontrakt verbriefte Recht. Entscheidend ist nun die Frage nach der Fest
setzung dieses Preises. Die schon angeführten Arbeiten von Black und Scholes
und Merton haben eine rationale Theorie dieser Preisfindung ins Leben gerufen
und damit die Praxis des Handelns mit Optionen entscheidend geprägt.
1.4 Arbitrage
Ein mathematisch gut formalisierbarer Zugang zur Preistheorie für derivative
Finanzprodukte wird durch den Begriff des Arbitrage gegeben. Als Arbitrage be
zeichnen wir einen risikolosen Profit beim Handel mit Finanzgütern, z.B. beim
Handel mit Aktien. Als Arbitragemöglichkeit verstehen wir die Möglichkeit ri
sikolosen Profits, und als Arbitrageur wird ein Marktteilnehmer auf der Suche
nach risikolosem Profit bezeichnet.
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Wir betrachten dazu ein sehr einfaches Beispiel:
Eine Aktie werde in New York und Frankfurt gehandelt. Es sei der Kurs in
New York 100 Dollar, der Kurs in Frankfurt 184 DM, der Wechselkurs 1,86 DM
pro Dollar.
Als Arbitragemöglichkeit liegt vor:
- Kaufe 100 Aktien in Frankfurt.
- Verkaufe diese Aktien in New York.
- Wechsle Dollar in DM.
Ohne Berücksichtigung von Transaktionskosten ist der risikolose Profit
100· (100 . 1,86 - 184) DM = 200 DM.
Die Transparenz des Marktgeschehens führt dazu, daß ein solches Arbitrage nur
für sehr kurze Zeit bestehen kann. Das Erkennen dieser Arbitragemöglichkeit
führt zu gesteigerter Aktiennachfrage in Frankfurt mit Anhebung des Frankfurter
Kurses und erhöhter Aktienabgabe in New York, was den dortigen Kurs senkt,
so daß die Arbitragemöglichkeit verschwindet.
Auch wenn konkrete Finanzmärkte in gewissem Umfang Arbitrage ermöglichen
sollten -was natürlich in etlichen Studien kontrovers diskutiert wird, so gehen wir
bei einem idealisierten Finanzmarkt davon aus, daß durch Transparenz und Effi
zienz keine Arbitragemöglichkeiten existieren. Führen wir nun in einem solchen
idealen Finanzmarkt ein derivatives Finanzgut ein, ist die Preisfestsetzung so
durchzuführen, daß im durch den Handel mit dem Derivat vergrößerten Finanz
markt kein Arbitrage entsteht. Überlegungen dieser Art sind grundlegend für die
Preistheorie für Finanzmärkte, und wir wollen dies für das folgende festhalten als
1.5 Leitmotiv der auf Arbitrage-Überlegungen basierenden Preistheo
rie
Preisfestlegungen für Finanzgüter sind so durchzuführen, daß kein Arbitrage auf
tritt. Wir werden dies als No-Arbitrage-Prinzip bezeichnen.
Bevor wir mit einem systematischen Studium der Konsequenzen des No-Arbitrage
Prinzips beginnen, sollen zwei einfache Beispiele seine Anwendung erläutern.
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1.6 Preisvereinbarung bei einem Forward
Betrachtet wird ein Finanzgut mit Preis So zum derzeitigen Zeitpunkt 0 und
bekannter Dividendenausschüttung D zum Zeitpunkt to, 0 < to < T, wobei T
den Erfüllungszeitpunkt des Forwardkontrakts für dieses Finanzgut bezeichne.
Wir nehmen weiterhin an, daß am Markt die kontinuierliche Zinsrate r vorliege,
also ein Bankguthaben von einer Einheit im Zeitraum tauf ert wächst.
Das No-Arbitrage-Prinzip liefert dann für den Erfüllungspreis F:
F = (So - I)eTT mit 1= De-TtO.
Zur Begründung sei zunächst angenommen, daß
F> (So - I)erT
vorliege. Dann gehen wir eine short position im Forward ein. Wir leihen den
Betrag So zum Zeitpunkt 0 und kaufen das Gut. Die Dividendenzahlung benutzen
wir zur partiellen Rückzahlung. Schließlich verkaufen wir zum Zeitpunkt T das
Gut zum Erfüllungspreis F und zahlen den Restbetrag zurück. Dies liefert den
risikolosen Gewinn
G F - (SoeTto _ D)eT(T-to)
F - (SoeTto _ IeTto)eT(T-to)
F - (So - I)eTT > 0,
unabhängig vom zukünftigen Preis des Guts zum Zeitpunkt T. Im Falle von
F< (So - I)eTT
gehen wir eine long position im Forward ein. Wir gehen eine short position im
Gut ein, d. h. wir leihen das Gut zum Zeitpunkt 0 aus mit der Verpflichtung zur
Dividendenzahlung an den Verleihenden, und verkaufen das Gut zum Preis So.
Diesen Betrag legen wir verzinslich an. Als risikolosen Gewinn erhalten wir nach
Erfüllen der long position im Forward und Rückgabe des ausgeliehenen Guts
G (SoeTto - D)eT(T-to) - F
(So - I)eTT - F > O.
Die vorgestellte Arbitragestrategie beinhaltet das Eingehen einer short position
im Gut durch Ausleihen, Übernahme von Verpflichtungen wie Dividendenzahlung
und anschließendem Ausgleich der Position. Diese Art des Ausleihens wird als
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short selling bezeichnet, wobei in der Praxis zu beachten ist, daß short selling auf
unterschiedlichen Finanzmärkten auch unterschiedlichen Restriktionen unterliegt.
In einem Finanzmarkt ohne short selling würde sich das beschriebene Arbitrage
nur für den Besitzer des betrachteten Guts ergeben.
1.7 Put-Call-Parität
Betrachten wir zwei verschiedene Kombinationen von Finanzgütern, deren Werte
V und W zu einem zukünftigen Zeitpunkt T mit Sicherheit übereinstimmen, so
liefert das No-Arbitrage-Prinzip, daß die Werte Vo und Wo zum gegenwärtigen
Zeitpunkt ebenfalls übereinstimmen, sich also
Vo = Wo
ergibt.
Zur Begründung sei
Vo > Wo
angenommen. Dann führen wir ein short selling in der ersten Kombination durch,
d. h. wir leihen uns diese im gegenwärtigen Zeitpunkt aus und verkaufen sie zum
Preis Vo. Die zweite Kombination wird zum Preis Wo gekauft und die Differenz
Vo - Wo wird risikolos angelegt. Zum Zeitpunkt T wird die zweite Kombination
zum Preis W verkauft und damit die erste zum Preis W = V gekauft und zurück
gegeben. Es verbleibt der risikolose Profit (Vo - Wo)erT bei einer angenommenen
Zinsrate Ist short selling nicht möglich, so erhalten wir so eine Arbitragestra
T.
tegie für einen Besitzer der ersten Kombination.
Dieses Ergebnis soll nun auf den europäischen Call und Put angewandt werden.
Wir betrachten dazu einen Call und einen Put auf ein Finanzgut mit identischem
Ausübungspreis Kund Verfallszeitpunkt T. Ist A der Preis des Finanzguts zum
Zeitpunkt T, so beträgt der Wert des Calls zu diesem Zeitpunkt
C = (A- K)+,
denn der Call gibt das Recht, das Finanzgut zum Preis K zu kaufen. Er wird
also ausgeübt, falls A > K vorliegt mit resultierendem Profit A - K. Im Falle
A ::::; K verfällt der Call mit resultierendem Wert O. Entsprechend ergibt sich der
Wert des Puts zum Zeitpunkt Tals
P=(K-A)+.
Wir betrachten nun als erste Kombination das Finanzgut selbst mit dem beschrie
benen Put und zugehörigem Wert
V = A+ (K - A)+ = max{A,K}.