Table Of Content\ \
CARITAS
ERO~ anct
Die platonische Liebe
und die Liebe im Sinne des Christentums
Von
D. Dr. Heinrich Scholz
ord. Professor der Philosophie
an der Universität Münster i. W.
.
\
\
[),'..:\Tc Li:\D Bl:Ylr<lCl
BOTT!CcLLI
iDA\ lr,'S GÖTTL!UiE f\O,IÖIJ!l·, fJ,'..IlA!JlSO V. C)fc:iM.;CJ)
Zckhnung
Max Niemeyer Verlag I Halle (Saale) 1929
Inhalt.
Seite
Einleitung . . . . . .
Alle [~echte, !. Die pl<tlonische Liebe 3
auch das der Übcrsct)ung in fremde .Sprachen, vorbehalten !!. Die Liebe im Sinne des Christentums 44
Copyright by Max Nicmeycr Vcrl,lg, Halle (Saale), 1929
Schlul) 93
Printcd in Gcrmany
Exkurse . 90
Druck von Kar-ras, 1\riiber & Nictschmann, Halle (Saale)
Vorrede.
Die folgenden Bl~itter sollen für einen gröf}eren Kreis
von denkenden J'vlenschen das festholten, wos ich, auf
Grund einer freundlichen Einladung der Kieler Ortsgruppe
der Kantgesellschaft, vor einem kleineren Kreise und in
einer noch komprimierteren Gestellt, am 7. Juni diese~.;
Jahres habe aufbauen dürfen.
Frus und ( 'rtritlfs. die platonische Liebe \Illcl die Liebe
im .Sinne des Christentums, sind die heiclen gröfHen
Clestalten der Liebe auf dem Boden des Abendlandes.
Und g·anz erst, wenn die platonische Liebe in der
Gestalt g·esehen wird, zu der sie in der Welterotik der
Aristotelischen Metaphysik emporwächst. In der Gestalt,
in der sie so selten gesehen wird, da0 es schon deshalb
der Mühe wert ist, sie einmal in dieser und nur in dieser
Gestalt zu zeigen.
Und erst recht der Mühe wert, sie in dieser Gestalt
mit der Caritas zu vergleichen.
Mit der Caritas auf den Gipfelpunkten ihrer Erscheinung:
also mit der Curi111s der Evangelien und des Paulinischen
Christentums; und mit der Caritas, wie sie von August in u s,
Dante und Pascal gesehen worden ist.
Und so, da0 das lef?te Wort über die Caritas auf der
Basis der Dantischen Dichtung gesagt wird.
VII
Darum durfte in diesem Büchlein die Zeichnung des Menschen nicht das Lct)te, sondern, in jedem l'lilscl/(·irll'ndnz
Botticelli nicht fehlen; denn sie ist das Komplement zu Augenblick, immer nur das Vorlct)te ist.
allem, was zur Caritas auf dieser Basis gesagt werden kann.1) Und das Let.;tc?
Das und nur das, wovor man die Hände mu(} falten
können.
Es versteht sich, dal? die beiden Gestalten der Liebe
nur dann miteinander verglichen werden können, wenn sie
wenigstens Eine hervorgehobene Eigenschaft miteinander In dieser Arbeit habe ich mich sehr weit von meinem
gemein haben. alten Lehrmeister Adolf v. Harnack entfernen müssen.
Es wird gezeigt, dal? eine solche Eigenschaft in der Ich werde also sag·en dürfen, da(} es mir s c lnv er
Tat existiert. •t,reworden ist, mich von ihm zu entfernen, und da(} ich n ich I
Auf dieser Grundlage werden die beiden Gestalten der zu denen g·ehöre, die irgend etwas vergessen haben von
Liebe nun so miteinander verglichen, dal? für beide gezeigt dem, was vor 25 Jahren g·ewesen ist.
wird, worauf sie beruhen, worin sie bestehen und wie sie Und erst recht nicht zu denen, die für irgend eine
sich auf die Geschlechter verteilen. Analysis, für welche der Verstand nicht selbst das Objekt
Und nun erst kann die Frage entschieden werden, ist, diesen Verstand auBer Kraft seJ?en wollen.
die sich der Philosoph nicht ersparen darf: ob das ,llnd' in Denn erreicht ist das, was ich wollte, nur dann, wenn
Eros und Caritas nur eine Verknüpfung zum Zweck der dieses Büchlein von der platonischen Liebe und von der
Vergleichung bedeutet oder eine Vcrknüpfung mit der Liebe im Sinne des Christentums auch den Verstand, und
Möglichkeit einer Verkettung in einem und demselben bis zur Ie1;>ten Zeile, in Anspruch nimmt.
denkenden Menschen.
In diesen Blättern ist sie entschieden.
Und so, dal? die Möglichkeit einer Verkettung für einen Dem Herrn Verleger möchte ich auch an dieser Stelle
denkenden Menschen nur dann existiert, wenn die Kultur herzlich danken für die Bereitwilligkeit, mit der er den
im platonischen Sinne, also die Kultur, die so hoch gefal?t Druck übernommen hat.
ist, dal? sie nicht noch höher gefal?t werden kann, für diesen Und mit dem Druck die Reproduktion des Botticelli,
um die ich ihn gebeten habe.
Bei der Vorbereitung· und Korrektur dieses Büchleins
1) Herr Dr. ß. Se g a II vom Berliner Kupferstichkabinett ist so
hat mein hochverehrter Kollege, Herr Professor Dr. Hermann
fr.:uncllich gewesen, mich über die Abmessungen des Originals zu
unterrichten. Die Originalzeichnung des Bott i c c II i ist 466 mm lc1ng Schöne, mir in der freundschaftliebsten Weise g·eholfen.
und ,319 rnm hoch. Länge und Höhe verhalten sich cllso zu einander Und möglich geworden ist dieses Büchlein nur dadurch,
rund wie 23: 16. In der l~eproduktion hingegen wie 5: b. Es bleibt
dal? es wtrh von Dingen spricht, die so schön g·ewesen
nichts übrig, als diese unvermeidliche Transformation des Originals
zur Kenntnis des Lesers zu bringen. sind, da(} es deslw/1J entstehen durfte.
Dem Vorstelllei des Berliner Kupferstichkabinetts, zu dessen
grö!3ten Sch~il}en das Blatt gehört, clc1rf ich auch an dieser Stelle
meinen wärmsten Dank aussprechen für die erteilte Erlaubnis zur
Reproduktion.
Zweimal, in der Geschichte des abendländischen
Geistes, ist über der Liebe eine Metaphysik von der ersten
GräBenordnung aufgebaut worden.
Das eine Mal im Platonismus.
Das zweite Mal im Christentum.
Und von derselben GräBenordnung wie die beiden
geistigen Mächte, die wir im Platonismus und im Christen
tum antreffen, sind nun auch die beiden Gestalten der
Liebe, die wir Plato und dem Christentum schuldig
geworden sind.
Es ist die Liebe als Eros und die Liebe als Caritas.
Wir wollen diese beiden Gestalten der Liebe mit
einander vergleichen.
Wir wollen mit andern Worten zeigen, worin sie mit
einander übereinstimmen und wodurch sie sich voneinander
unterscheiden.
Wir schicken drei Erklärungen voraus.
Wir erklären zunächst, was wir unter einer Meta
physik der Liebe verstehen.
Unter einer Nctaphysik der Liebe verstehen wir eine
Folge von Aussagen über die Liebe, die nicht nur apho
ristisch aneinandergereiht, sondern so miteinander verkettet
sind, daB ein in sich geschlossenes Ganzes entsteht.
Wir werden zeigen, da!} eine solche Metaphysik nicht
nur vom Platonismus geschaffen worden ist, sondern auch
vom Christentum.
Und im allergräBten Stil.
Sc h o I z, Eros und Caritas.
2
Und so, dal} diese Metaphysik der Liebe selbst
wieder ein Teil einer umfassenderen Metaphysik ist, wobei
wir unter einer Metaphysik eine Folge von Aussagen ver
stehen, die sich auf die lef)ten Dinge beziehen, die einen
denkenden Menschen festhalten können, und so, da(] diese
Aussagen zu einem in sich geschlossenen Ganzen ver
kettet sind.
Wir haben ferner zu erklären, was wir unter der
platonischen Liebe und unter der Liebe im Sinne des
Wir beschreiben zunächst die platonische Liebe, wie
Christentums verstehen.
sie im , Gastmahl' aufgebaut isf.l)
Unter der platonischen Liebe verstehen wir die Liebe,
Diese platonische Liebe ist ein bestimmter menschlicher
die Plato im ,Gastmahl' aufgebaut hat. Und so, da(]
Zustand, eine bestimmte Gemütsverfassung.
Aristoteles, also der gröBte Platoniker, diese Liebe an
Sie ist diejenige Gemütsverfassung, die folgende Eigen
der Stelle hat einse1)en können, an der sie, im eigentlichsten
schaften hat:
Sinne, zur Weltmacht geworden ist.
1. Sie hat eine bestimmte ,Idee' oder, wie wir lieber
Zur Weltmacht.
mit P Ia to sagen, ein bestimmtes Eidos zur Vorausse1)ung,
Genauer zu der Macht, deren Existenz eine notwendige
so da(] also die Existenz eines solchen Eidos eine not
Bedingung ist für die Existenz der physikalischen Welt
wendige Bedingung ist für die Existenz einer platonischen
ordnung und, durch sie, für die Erhaltung der Welt.
Liebe.
Unter der Liebe im Sinne des Christentums verstehen
Dieses Eidos ist das Eidos des Schönen.
wir die Liebe, die wir in den Evangelien antreffen. Die
Die platonische Liebe ist also diejenige Gemüts
Liebe, die Pa u I u s mit dem Glauben und der Hoffnung zu
verfassung, für welche die Existenz eines Eidos des Schönen
einem Dreiklang zusammengefa(]t hat, in welchem sie selber
eine notwendige Existenzbedingung ist.
der Grundton ist. Und die Liebe, zu welcher drei klassische
Interpreten existieren: Augustinus, Dante, Pascal. Die
') Es versteht sich, dall die folgende Analysis der platonischen
Augustinischen Konfessionen, Dantes Weltgedicht und
Liebe den platonischen Eros weder ausschöpfen so I I noch aus
Pascals Fragmente über das Wesen des Christentums schöpfen kann.
werden, mit den Evangelien und Paulus, die Bausteine Die pünktliche Zielseijung der folgenden Analysis ist vielmehr
die Hervorarbeitung derjenigen und nur derjenigen Bestimmungs
liefern, aus denen wir die Metaphysik der Caritas aufbauen
stücke der platonischen Liebe, die notwendig und hinreichend sind
werden.!) a) für die kosmische Funktion dieser Liebe in der Aristotelischen
Metaphysik,
1) Man wird T h o m a s von A q u in o in dieser Reihe vermissen. b) für die beabsichtigte Konfrontation mit der Caritas.
Ich habe in dem grollen Lehrstück de charitate, qu. 25-44 der Secunda Alles übrige ist hier zurückgestellt.
Secundae, nichts finden können, was nicht viel schöner und quellen Es ist ausgebreitet in Julius StenzeIs schönem P 1a t o-Buch:
Plato als Erzieher, Leipzig, Felix Meiner, 1928, vor allem in Kap. V.
hafter bei Augustinus, Dante und Pascal zu finden ist.
Unter einer Analysis eines Gegenstandes verstehe ich eine
Beschreibung, die diesen Gegenstand so in seine Komponenten zer
legt, dall er aus ihnen wieder aufgebaut werden kann.
1*
4 5
Oder, noch etwas pünktlicher: diejenige Gemüts ist im geistigen Sinn, wenn er die ,schöne Seele' hat,
verfassung, von der wir nur dann behaupten können: , es für deren Existenz die Empfänglichkeit für das zu
gibt eine solche Gemütsverfassung', wenn es ein Eidos beschreibende Eidos des Schönen ein Kennzeichen ist.
des Schönen gibt. (4) Die , Gestalt', von welcher wir sprechen, ist nicht
Wir sagen kurz: die platonische Liebe ist diejenige nur in jedem Knaben präsent, der irgendwie schön zu
Gemütsverfassung, die auf dem Eidos des Schönen beruht. nennen ist, sondern in allem, was so beschaffen ist, daB
2. Und worin besteht die platonische Liebe? wir sagen dürfen: es ist schön.
Sie besteht in dem Angezogensein von dem Ezaos des Die durch diese vier Eigenschaften bestimmte einzige
Schönen. ,Gestalt' nennen wir mit Plato das Urbild oder das
Zu diesen beiden Eigenschaften kommt nun noch eine Eidos des Schönen.
dritte konstituierende Eigenschaft für die platonische Liebe
hinzu. Sichtbar oder greifbar, in dem Sinne, daB wir für
irgendein angegebenes Zeitintervall oder wenigstens für
5. Sie kann sich nur in einem Manne erzeugen.
irgendeinen angegebenen Zeitpunkt ihre Stelle im Raum
bestimmen können, sind immer nur die Dinge, in denen
Wir haben die drei Bestimmungsstücke der platonischen die Urgestalt des Schönen präsent ist, und nicht sie
Liebe der Reihe nach zu interpretieren.
selbst.
1. Was ist das Eidos des Schönen? Sie selbst ist in diesem pünktlich bestimmten Sinne
Wir behaupten mit Plato: Es gibt eine und nur eine weder sichtbar noch greifbar; denn es gibt schlechterdings
,Gestalt', die folgende Eigenschaften hat: keine Stelle im Raum, an der sie zu irgendeiner Zeit
(1) Sie gehört nicht zur Klasse der sinnlich sichtbaren, angetroffen werden könnte.
sondern zur Klasse der sinnlich unsichtbaren Gestalten. Sie ist extramundan.1)
Sie wird also entweder überhaupt nicht gesehen oder unter
der Form der Erschauung. Unter der Form einer Intuition, Was folgt aus dieser tiefliegenden Verschiedenheit
die verglichen werden kann mit der Intuition, die wir noch zwischen den Dingen, in denen die Urgestalt des Schönen
heute hervorrufen müssen, um uns von der Existenz der präsent ist, und dieser selbst?
Folge der natürlichen Zahlen zu überzeugen, falls wir uns Es folgt, daB zwar die Dinge, in denen sie präsent
nicht mit Hilbert darauf beschränken, die Mathematik so ist, der Veränderung, dem Werden und Vergehen unterworfen
aufzubauen, da(} wir uns mit einem Beweis für die Wider sind; und so, daB zu diesen Veränderungsmöglichkeiten
spruchsfreiheit dieser Existenzbehauptung begnügen. auch die Möglichkeit der Veränderung ihres jeweiligen
(2) Es gibt Menschen, in denen sich diese , Gestalt' Verhältnisses zur Urgestalt des Schönen gehört. Diese
manifestiert. Menschen, in denen sie , präsent' ist. kann mehr oder weniger in ihnen präsent sein, so daB
Menschen, die , teilhaben' an dieser Gestalt. sie jel}t mehr, jel}t weniger schön sind. Es kann auch
(5) Sie ist in jedem schönen Knaben oder Jüngling sein, daB die Präsenz des Schönen in einem solchen Dinge
präsent. Und nicht nur dann, wenn er sinnlich schön ist,
sondern auch dann, und dann erst recht, wenn er schön ') Wie die Aristotelische Gottheit. Siehe unten S. 55 f.
6 7
gänzlich verschwindet und durch die Präsenz des Nicht Daraus folgt jedoch im geringsten nicht, da(} irgend
schönen oder auch des Hälmchen abgelöst wird. eine platonische Idee mit irgendeinem Begriff in unserm
Das alles kann den Dingen begegnen, die wegen ihrer Sinne identifiziert werden darf. Denn ein Begriff in unserm
Stellung im Raum und in der Zeit an der Urgestalt des Sinne ist, mit Dedekind gesprochen, eine freie Schöpfung
Schönen immer nur ,teilhaben' können. des menschlichen Geistes. Eine Schöpfung, die dadurch
Der Urgestalt des Schönen selbst aber kann es nicht zustande kommt, da(} wir die Bedeutung eines Zeichens
zustoBen; denn mit der Stellung im Raum und in der Zeit festlegen; und zwar entweder, wenn dieses Zeichen ein
fehlt ihr die Möglichkeit zu irgendeiner Veränderung, für Grundsymbol ist, implizit, also dadurch, da(} wir eine
welche die Existenz einer solchen Stellung eine notwendige endliche Anzahl von Aussagen angeben, in denen dieses
Bedingung ist. Grundsymbol auftritt, oder, wenn es nicht Grundsymbol
Sie kann sich also nicht verändern, sondern wenn sie ist, explizit, also dadurch, da(} wir eine Übersel}ungsregel
überhaupt existiert, so ist sie, menschlich gesprochen, in angeben, durch deren Anwendung jede Aussage oder
jedem Zeitpunkt das, was sie in irgendeinem Zeitpunkt ist. Aussageform, in der dieses Zeichen auftritt, zurück
Sie ist ein dci Üv1) und ein dcl. o)ua{uo~ [xM•.2) übertragen werden kann in eine Aussage oder Aussage
Wir würden sagen: sie ist eine Konstante von der Art form, in der nur Zeichen mit einer schon festgelegten
eines Begriffs; wobei natürlich vorausgesel}t ist, da(} ein Bedeutung, also schlieBiich nur Grundsymbole auftreten.
Begriff sich nicht wandeln kann. Und in der Tat: das Und eine freie Schöpfung des menschlichen Geistes
einzige, was wir pünktlich denken, wenn wir, in Bezug ist ein Begriff in unserm Sinne, insofern eine solche
auf irgendeinen Begriff, von den Wandlungen dieses Begriffsschöpfung grundsäl}lich durch keine Vorschrift
Begriffes sprechen, ist die Ablösung einer Definition des beschränkt ist, die von den angegebenen Vorschriften ver
selben durch eine andere, die nicht zu ihr äquivalent ist, schieden ist. Nicht einmal durch das Postulat der Wider
und so, da(}, abgesehen von dieser Bedingung, alles übrige spruchsfreiheit. Denn die Erfüllung dieses Postulates ist
offen bleibt. Begriffe als solche wandeln sich nicht; es zwar eine notwendige Bedingung dafür, da(} über irgend
wandeln sich höchstens ihre Definitionen, und stets in dem einem System von Begriffen eine Theorie aufgebaut werden
angegebenen Sinne, da(} eine vorhandene Definition durch kann, also eine Folge von Aussagen oder Aussageformen,
irgendeine andere, die nicht zu ihr äquivalent ist, ersel}t wird. für welche der Fall nicht eintreten kann, da(} mit irgendeiner
Dies also hat die platonische Urgestalt des Schönen, Aussage p oder mit irgend einer Aussageform p zugleich
und mit ihr jede platonische Idee, mit unsern Begriffen die kontradiktorische Verneinung von p (p) wahr ist oder
gemein, da(} sie erstens zu keiner Zeit an irgendeiner wahr wird; aber im geringsten ist die Widerspruchsfreiheit
Stelle des Raumes existiert, und da(} sie zweitens so eines Begriffes nicht auch eine notwendige Bedingung
unveränderlich ist wie irgendein Begriff, also irgend ein dafür, da(} wir uns für diesen Begriff überhaupt interessieren.
Zeichen mit festgelegter Bedeutung. Es lassen sich im Gegenteil Fälle angeben, in denen ein
widerspruchsvoller Begriff von allergröl}tem Interesse sein
1) Also ewig, wie die Aristotelische Gottheit. Siehe unten S. 35, kann, z. B. der Begriff des quadrierbaren Kreises oder der
Anm.1.
•) Oder auch ein dxivrrrov, wie die Aristotelische Gottheit. Siehe Begriff der kleinsten Strecke oder der Begriff der Menge
unten S. 57 f. von der gröBten Mächtigkeit usf. Alle Nichtexistenzsäl}e
8 9
der Mathematik sind Aussagen über die Widerspruchs~ menschlichen Geistes, wie die Begriffe. Von den Begriffen
belastetheil eines Begriffs. Und sie sind im geringsten nicht sollen sie sich dadurch und nur dadurch unterscheiden,
weniger interessant als irgendeine Existenzbehauptung. da(} es keinen empirischen Gegenstand gibt, (also keinen
Die Begriffe in unserm Sinne sind also in der Tat, Gegenstand, zu dem für einen bestimmten Zeitpunkt eine
und in der strengsten Bedeutung, freie Schöpfungen des Stelle im Raume so angegeben werden kann, da(} er an
menschlichen Geistes. dieser Stelle irgendwie anzutreffen ist), der unter eine Idee
Ganz anders die platonischen Ideen. so fällt, da(} diese Idee von ihm in einer Aussage prädiziert
Denn wenn irgend etwas für diese Ideen konstitutiv werden kann, die mit dem Wahrheitsanspruch belastet
ist, so ist es dies, da(} sie entweder überhaupt nicht werden darf. Beispiel: die Idee der Vollkommenheit.
existieren oder so, da(} sie grundverschieden sind von Sie kann von keinem Menschen, und überhaupt nicht von
irgendeiner Schöpfung des menschlichen Geistes. Denn irgendeinem kreatürlichen Wesen prädiziert werden. Jede
eine Schöpfung des menschlichen Geistes hat die Existenz Aussageform von der Gestalt ,x ist vollkommen' geht in
dieses Geistes und mit dieser die Existenz wenigstens eine falsche Aussage über, wenn als Argumentwert von x
eines menschlichen Individuums zur Vorausseljung. irgendein Mensch oder irgendein kreatürliches Wesen ein
für die Existenz einer platonischen Idee ist es funda~ geseljt wird.
mental, da(} sie die Existenz eines menschlichen Individuums Durch diese zusäljliche f orderung entfernen sich die
nicht zur Vorausseijung hat. Sie hat sie genau so wenig Kantischen Ideen von den Platonischen noch weiter als
zur Vorausseijung, wie die Existenz des Raumes und der unsere Begriffe; und der entgegengeseljte Eindruck, da(}
Zeit, die sie deshalb nicht zur VorausseJ}ung hat, weil sie gerade durch diese Forderung eine tiefliegende Überein
in ihnen nicht angetroffen werden kann. stimmung zwischen den Kantischen und den Platonischen
Und dies ist nun das einzige überhaupt, was über Ideen erzeugt werde, ist ein Schein. Und ein Schein, der
die Existenzform einer platonischen Idee pünktlich aus~ seine Existenz bis zu dieser Stunde nichts anderem ver
gesagt werden kann. Eine platonische Idee existiert so dankt, als dem Mangel an logischer Pünktlichkeit.
und nur so, da(} ihre Existenz weder die Existenz des Denn für die platonische Idee des Schönen, um nur
Raumes noch die Existenz der Zeit, noch die Existenz des an dieser zu exemplifizieren, ist es ausdrücklich zugelassen,
menschlichen Geistes impliziert; denn sie kann schlechter~ ja für den Aufbau der platonischen Liebe sogar als eine
dings nicht erzeugt werden. Und nie sind, in jedem notwendige Bedingung gefordert, da(} wenigstens Ein
Sinne des Wortes, die platonischen Ideen radikaler ver~ menschliches Individuum und wenigstens Ein menschliches
zeichnet worden als durch ihre Identifizierung mit den Werk existiert, für welches die Aussageform , x ist schön'
vom menschlichen Geiste erzeugten Methoden der wissen~ oder ,x hat teil am Eidos des Schönen' oder ,das Eidos
schaftliehen Erkenntnisgewinnung. des Schönen ist in x präsent' in eine wahre Aussage
Durch ihre grundsäljliche Unerzeugbarkeit sind die übergeht; denn da(} diese drei Aussageformen zueinander
platonischen Ideen nicht nur von unseren Begriffen auf äquivalent sind, ist von Plato im Phaedon ausdrücklich
das pünktlichste unterschieden, sondern auch von den hervorgehoben worden.
Ka n tischen Ideen; denn auch die Kantischen Ideen sind als Und was vom Eidos des Schönen gilt, das gilt von
Vernunftschöpfungen definiert, mithin als Schöpfungen des jeder platonischen Idee.
10 11
Wir kehren zur Existenz der platonischen Ideen zurück. Sie beruht auf dem Eidos des Schönen, und so,
Eine platonische Idee existiert also so, da{} es nichts da{} dieses Eidos so autonom existiert, da{} es sinnlos ist,
gibt, was von ihr verschieden ist, wovon behauptet werden nun noch weiter nach einem Grunde für die Existenz
darf, da{} die Existenz desselben eine notwendige Bedingung dieses Eidos zu fragen.
ist für die Existenz dieser Idee. Und worin besteht die platonische Liebe?
Am groBartigsten hat Dlato diese im strengsten Sinne Sie besteht in dem Angezogenwerden von dem
autonome Existenz der Ideen im Timaeus hervorgehoben. Eidos des Schönen.
Hier erstreckt sich die Autonomie der Ideen so weit, da{} Was ist unter dieser Anziehung zu verstehen?
sie sogar der Existenz des Weltschöpfers, des Demiurgen, Wir antworten mit Dlato Folgendes.
gegenüber erhalten bleibt. Denn die Existenz des Welt Wenn ein Mensch das Eidos des Schönen erschaut
schöpfers ist im geringsten nicht eine notwendige Bedingung hat, so wird er in einem radikalen Sinne verwandelt. Er
für die Existenz der Ideen oder, wenn wir uns noch etwas wird ein gänzlich anderer Mensch. Er wird von der
pünktlicher ausdrücken, für die Existenz der Idee des Anziehungskraft der Idee des Schönen erfaflt, und so, da{}
Kosmos, nach der der Weltschöpfer die Sinnenwelt erschafft, der ganze Inhalt seiner Existenz sich fortan in dem ununter
sondern umgekehrt: die Existenz der Idee des Kosmos ist brochenen Hinstreben nach dieser Idee erschöpft.
eine notwendige Bedingung - zwar nicht für die Existenz Als Kriterium für dieses Streben geben wir mit Dia to
des Weltschöpfers, wohl aber für die welterschaffende an, da{} ein solcher Mensch auf alles, was unter die Idee
Tätigkeit desselben. Und nichts ist an dieser Stelle so des Schönen fällt oder an der Idee des Schönen , teilhat',
unplatonisch, wie die groBartige Augustinisch-Leibnizische in folgendem Sinne reagiert:
Identifizierung der Weltidee mit einer Schöpfung des gött Entweder der unter die Idee des Schönen fallende
lichen Geistes, so da{} die Existenz der Idee des Kosmos Gegenstand ist irgendein schöner, edler Mensch. Ein
die Existenz der Gottheit zur VorausseiJung hat. Mensch, der höher steht, als er selbst. Dann strebt er
Es ist eine der tiefstliegenden und, für einen scharf darnach, diesem Menschen so ähnlich wie irgend möglich
denkenden Men~chen, noch immer nicht völlig befriedigend zu werden. Er strebt also mit anderen Worten darnach,
beantworteten Fragen der philosophischen Dlato-Inter die Niveaufläche dieses höherstehenden Menschen zu
pretation: was Dlato bestimmt hat, den Ideen eine Existenz erreichen.
von einer so beispiellosen Autonomie zuzuschreiben, da{} Oder der unter die Idee des Schönen fallende Gegen
ihre Existenzform nur noch verglichen werden kann mit stand ist irgendein schönes, edles Tun oder irgendein
der Existenzform der Gottheit im Christentum. schönes, edles Werk. Dann strebt er darnach, der Mensch
Es versteht sich, da{} es unmöglich ist, da{} wir eine zu sein mit diesem schönen, edlen Tun oder mit diesem
so tiefliegende Frage hier aufrollen. schönen, edlen Werk. Er strebt mit anderen Worten
Und es ist auch nicht nötig; denn es genügt, da{} wir darnach, so viele edle Taten zu tun und so viele edle Werke
wissen, da I} die platonischen Ideen so existieren, und da{} zu schaffen, da{} die obere Grenze des menschlich Mög
sie nur so existieren. lichen erreicht wird.
Das Kriterium für das geforderte Streben ist also der
2. Wir wissen nun, worauf die platonische Liebe beruht. energische und erfolgreiche Wille, der Mensch zu werden,