Table Of ContentNadine Hauer
Die Mitliiufer-
Oder die Dnfahigkeit zu fragen
Nadine Hauer
Die Mit liiu fer
Oder
Die Unfahigkeit zu fragen
Auswirkungen
des Nationalsozialismus auf
die Demokratie von heute
Leske + Budrich, Opladen 1994
ISBN 978-3-322-96043-6 ISBN 978-3-322-96042-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-96042-9
© 1994 by Leske + Budrich, Opladen
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Vorwort
Als die Forschungsarbeit, die Grundlage zum vorliegenden Buch, abge
schlossen war, stand die Mauer in Berlin noch, und es gab keine Anzei
chen fUr zunehmende Gewalt, Auslanderfeindlichkeit und erstarken
den Rechtsextremismus. Und doch lieB diese Studie zwei Schliisse zu:
die "Wiederkehr des Verdrangten", die NS-Zeit, konnte in Deutschland
und Osterreich jederzeit wiederzum Durchbruch kommen; die Folgen
des "Mitlaufer" -Syndroms willden den (damals noch bestehenden) Ost
blockstaaten, vor aHem aber der DDR, noch bevorstehen. Uberraschend
waren nur das AusmaB und die Schnelligkeit, mit der dies erfolgte.
Manchmal ist es schlimm, recht zu haben.
Nadine Hauer
Wien im Oktober 1993
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Inhalt sverzeichnis
1. Einleitung ................................. ........................................ 11
1.1 Mogliche MiBverstiindnisse oder Einwiinde
vorweggenommen ......... ......................... .......................... 13
2. Grundlegende Uberlegungen - Die Hypothesen ............ . 15
Der Tabu-Kreis ................................................................ . 19
3. Der theoretische Ansatz - Methode ................................. 23
3.1. Ethnopsychoanalyse ........................................................ 23
3.2. Tiefeninterview als Methode ........................................... 24
3.3. Auswahlkriterien - Repriisentativitiit ............... ............ 25
3.3.1. Begleitende Untersuchung durch das Wiener
Institut fUr Empirische Sozialforschung (IFES) ............. 26
3.3.2. Repriisentativitiit der Gespriichspartner in der BRD ..... 28
4. Interviews ......................................................................... 30
5. Auswertung - Ergebnisse ................. ....................... 124
5.1. Kommunikations-Typen .... ...... ..... ..... .... ........... ............ 124
5.2. BeispieJe zu den Kommunikations-Typen ... ........... ............ 128
6. Erkenntnisse, Auffiilligkeiten und weitere
"Tabu "-Themen .......... ....................... ..... .......................... 138
7. Schluf3folgerungen ....................... ......................... ............ 142
7.1. Psychologisch ................................................................... 142
7.2. Politologisch ....... ......................... ......................... ............ 143
7.3. Politisch-Psychologisch (Politische Psychologie) ............. 144
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8. Der Unterschied zwischen (alter) BRD und Osterreich ...... 148
9. Die ehemalige DDR ...................... ......................... .............. 154
10. Das " Mitlaufersyndrom" - Die Unfiihigkeit zu fragen.
Einige Uberlegungen als Nachwort .................................... 161
11. Erganzende Untersuchungen .............................................. 164
11.1. IFES (fUr Osterreich) - Generationenvergleich ............... 164
11.2. Empirische Hermeneutik .................................................. 168
11.3. Objektive Hermeneutik ..................................................... 168
11.4. Psychoanalyse ..................................................................... 169
11.5. Oral History ........................................................................ 169
11.6. Exkurs: Vergleich mit Adorno ............................................ 169
12. Literatur .............................................................................. 171
Angaben zur Autorin ........................................................................ 175
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" ... Es liegt nahe, daran zu denken, daB die gro
Ben geschichtlichen Katastrophen, Kriege, Re
volutionen, Untergang von V6lkern, in viel in
nigerem Zusammenhang mit Einbriichen von
Neurosen stehen, als wir bis jetzt begriffen ha
ben, die Erforschung dieser Zusammenhange
wiirde freilich eine doppelte Pathogenese bedin
gen, einmal die Krankheit als Ursache angese
hen und einmal als Folge, jede ein Bild fUr sich,
total verschieden in der Wirkung, mit total ver
schiedener Therapie. Ware es nicht wichtig, zu
wissen, vor aHem wichtig, brennend wichtig, ob
wir das Ursachenphanomen oder das Folgepha
nomen vor uns haben! ..."
" ... Die Krankheit der Jugendlichen ist in Wahr
he it die Sehnsucht nach Autoritat, nach Pers6n
lichkeit ..."
(Jakob Wassermann: Etzel Andergast, 1931)
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1. Einleitung
Die Beschaftigung mit der KZ-Nachfolgegeneration, also den Kindern
insbesondere jiidischer KZ-Opfer, gehort zwar auch zu jenen Themen,
mit denen sich die Wissenschaft noch nicht ausreichend befaBt, aber es
gibt doch immer wieder Ansatze dazu. 1m allgemeinen konzentrieren
sich die Wissenschaftler dabei auf die Generation der KZ-Opfer und sind
der Ansicht, mit dem Aussterben der direkt betroffenen Opfer waren die
Auswirkungen des KZ-Traumas beendet.
1984 ist im Wieder Sensen-Verlag die Studie "Extremtraumatisie
rung und ihre Folgen fUr die nachste Generation. Die psychischen Sto
rungen der Nachkommen ehemaliger KZ-Hiiftlinge" erschienen. Die
Autorin Hedi Francesconi konnte nachweisen, daB eine Reihe von
Symptomen, die sich bei den KZ-Opfern zeigten, auch bei deren Kin
dern, die nach 1945 geboren sind, eindeutig feststellbar waren - zum
Beispiel das sogenannte KZ-Syndrom. Und sie hat ebenso nachgewie
sen, daB unter anderen auch dieses Symptom in abgeschwachter Form
an die nachfolgende(n) Generation(en) weitergegeben wird, wenn keine
bewuBte Bewaltigung des erlittenen Traumas erfolgt.
Mehrere Anhaltspunkte fUhrten mich zu der Uberlegung, eine ahnli
che Traumatisierung konnte es auch bei den Nachfolgegenerationen
derjenigen geben, deren Eltern ,,auf der anderen Seite" standen, in ir
gendeiner Form "Tater" waren, aber auch bei jenen - und das schien
mir fast noch wesentlicher -, deren Eltern bewuBt oder unbewuBt, ge
wollt oder ungewollt, weggesehen haben, nichts wissen wollten oder
konnten, also "Mitlaufer" waren, die sich unterordneten, das Gesche
hene geschehen lieBen usw.
Ethnopsychoanalytisch orientierte Autoren - Georges Devereux hat
sich dieses Themas schon 1956 angenommen - weisen daraufhin, daB
es ein "ethnisches UnterbewuBtsein" gibt, das sich aus all dem zusam
mensetzt, was eine Generation entsprechend den fundamentalen Anfor-
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derungen ihrer Kultur selbst zu verdrangen lernt und dann ihrerseits
die folgende Generation zu verdrangen zwingt. Zu dieser Form "ethni
scher StOrungen" des UnterbewuBtseins kann auch das "kollektive
Schuldgefiihl" gerechnet werden, von dem seit 1945 so viel-behaup
tend oder ablehnend - die Rede ist.
Alice Miller hat in ihrem 1981 erschienenen Buch "Du sollst nicht
merken" ein Kapitel den sogenannten nicht-sexuellen Tabus gewidmet.
In ihrer analytischen Praxis (und sie vertrat den Standpunkt, daB ihre
Patienten keine Ausnahmen waren) hat sie Storungen festgestellt, die
mit der NS-Zeit der Elterngeneration eindeutig im Zusammenhang ste
hen. "Die gefahrlichen Zonen, die es zu vermeiden gilt, sind Schuld-und
Schamgefiihle der Eltern, ihre Verwirrung und Enttauschung iiber das
eigene Verfiihrtsein angesichts der Katastrophe, in die Hitler sie ge
fiihrt hatte. Und auch hier gilt das Gesetz der Erziehung: nicht nur das
Geschlagenwerden und der sexuelle MiBbrauch wird den Kindern wei
tergegeben, sondern auch die Schuldgefiihle. ... Das verleugnete Trauma
ist wie eine Wunde, die nie vernarben kann und die jederzeit wieder an
fangen kann zu bluten."
Das Gesagte trifft zweifellos auch auf die Opfer zu. In meiner Studie
ging es aber urn die ,,andere Seite" und urn die Erkenntnis, daB die nach
folgende(n) Generation(en) durch das nationalsozialistische System psy
chisch geschadigt wurde(n). Das konnte ich auch in meiner jahrelangen
Tatigkeit als Journalistin bei Interviews und in der Erwachsenenbil
dung feststellen: Viele haben miindlich oder schriftlich zum Ausdruck
gebracht, daB sie unter der Schuld leiden, die ihre Eltern den Opfern ge
geniiber auf sich geladen haben, und daB sie ganz besonders auch darun
ter leiden, daB ihre Eltern ein Gesprach mit ihnen dariiber verweigert,
sie mit diesem Problem also im Stich gelassen haben. U nd sie sahen sich
selbst kaum imstande, spater ihren Kindern Erklarungen fiir die NS
Zeit zu geben, weil es da immer noch eine "dunkle Stelle" gab, ein Tabu,
das nicht iiberwunden ist (Alice Miller).
Die Auseinandersetzung mit den Opfern, Widerstandskampfern und
Tatern im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus ist fiir viele
kein Tabu mehr. Aufiallig aber ist, daB diese Auseinandersetzung mit
der groBen Mehrheit der Bevolkerung, also mit den sogenannten "Mit
laufern", bisher nicht stattgefunden hat. Da es aber dieser groBe Teil der
Bevolkerung war, der diese Diktatur - freiwillig oder unfreiwillig, ge
wollt oder ungewollt, bewuBt oder unbewuBt - mitgetragen hat, ist es
kaum vorstellbar, daB diese Zeit bei diesen achtzig bis neunzig Prozent
der Bevolkerung keine Spuren hinterlassen hat, auch wenn sie davon
weniger aktiv oder passiv betroffen waren als die Opfer, Widerstands
kampfer und Tater. Aufiallig ist, daB es, im Gegensatz zu dim Opfern,
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Widerstandskampfern, aber auch Tatern, vor allem die groBe Mehrheit
der "Mitlaufer" ist, die den Nationalsozialismus zum Tabu "gemacht"
hat und daran bis heute festhalt; ware das nicht eher ein Beweis dafUr,
daB auch sie von dieser Zeit stark und nachhaltig gepragt worden sind?
Das wiirde bedeuten, daB der Nationalsozialismus nicht nur die da
mals lebende Generation geistig und seelisch beeintrachtigt hat, son
dern daB diese Beeintrachtigung auch auf die nachfolgende(n) Genera
tion(en) weiterwirkt. SoUten meine Uberlegungen stimmen, so miiBten
sich ahnliche Auswirkungen auf die "Mitlaufer-"Nachfolgegenera
tion(en) auch injenen Landern herausstellen, in denen kommunistische
Diktaturen zu Ende gegangen sind.
1.1. Mogliche Mif3verstandnisse oder Einwande
vorweggenommen
Die Grundlage dieses Buches bildet ein Forschungsprojekt, das yom
osterreichischen "Fonds zur Forderung der wissenschaftlichen For
schung" in der Zeit von Oktober 1987 bis Marz 1990 finanziert wurde.
Die vorliegende Publikation sollte aber ein popularwissenschaftliches
Buch werden, ich habe daher bewuBt in Sprache und Form die typisch
wissenschaftliche Schreibweise vermieden.
Obwohl ich Politologin bin, galt dieses Projekt unter der Leitung des
Wiener Tiefenpsychologen Prof. Dr. Hans Strotzka als psychologische
Forschungsarbeit, vor allem auch deshalb, weil ich sowohl in der Vor
gangsweise als auch bei der Auswertung psychologische Methoden ver
wendet habe. Die Verbindung zur Politikwissenschaft ergab sich durch
die "Politische Psychologie", die zwar (noch) nicht in Osterreich, aber in
der BRD, in der Schweiz und in Italien bereits Bestandteil der Psycholo
gie geworden ist.
Leider haben die Politologen den Stellenwert der Psychologie fUr ihre
Wissenschaft bisher nicht geniigend anerkannt, ebensowenig wie den
Begriff der "Politischen Kultur". Seit dem AbschluB des Forschungspro
jektes im Friihjahr 1990 habe ich daher ausschlieBlich in psychologi
schen Fachzeitschriften publiziert und ausschlieBlich bei psychologi
schen Fachtagungen und an psychologischen Instituten deutscher Uni
versitaten Vortrage gehalten.
Bei den jeweils anschlieBenden Diskussionen iiber meine Ergebnisse
wurden Einwande gebracht, die ich im wesentlichen beriicksichtigt
habe. Wegen meiner vorwiegend gesellschaftlichen Orientierung bei
der Auswertung und Interpretation kam es aber auch immer wieder zu
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