Table Of ContentDIE
MALARIABEHANDLUNG
DER PROGRESSIVEN
PARALYSE
TINSPEZIFISCHE THERAPIE DER METALUES DES
ZENTRALNERVENSYSTEMS MITTELS KÜNSTLICHER
ERZEUGUNG EINER AKUTEN INFEKTIONSKRANKHEIT
VON
PRIVATDOZENT DR. JOSEF GEHSTMANN
ASSISTENT DER UNIVERSITÄTSKLINIK FÜR PSYCIDATRIE
UND NERVENKRANKHEITEN IN WIEN
MIT EINEM VORWORT VON
PROFESSOR DR. JULIUS WAGNER-JADREGG
VORSTAND DER UNIVERSITÄTSKLINIK FÜR PSYCHIATRIE
UND NERVENKRANKHEITEN IN WIEN
MIT 16 TEXTABBILDUNGEN
SPRINGER-VERLAG WIEN GMBH 1925
ISBN 978-3-662-36055-2 ISBN 978-3-662-36885-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-36885-5
ALLE RECHTE, INSB!i:SONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN
COPYRIGHT 1925 BY SPRINGER-VERLAG WIEN
URSPRÜNGLICH ERSCHIENEN BEI JULIUS SPRINGER, VIENNA1925
SOFTCOVER REPRINT OF THE HARDCOVER IST EDITION 1925
Vorwort.
Als ich-im Jahre 1917 einen Vorschlag, den ich schon 1887 gemacht
hatte, in die Tat umsetzte und einige Paralytiker mit Malaria tertiana
impfte, in der Hoffnung, dadurch den paralytischen Prozeß günstig zu
beeinflussen, handelte es sich zunächst um einen Ve rsuch, dessen Fort
setzung in großem Maßstabe noch in Frage stand. Denn wenn auch bald
günstige Wirkungen bei einigen der so behandelten Fälle festzustellen
waren, konnte es doch unter Berücksichtigung dessen, was wir von der
oft bewiesenen Hartnäckigkeit der Malaria wußten, bedenklich er
scheinen, eine größere Anzahl malariakrank gemachter Personen aus der
Aufsicht der Klinik in die Außenwelt zu entlassen, wo sie nicht nur selbst
neuerdings erkranken, sondern auch möglicherweise eine Gefahr für ihre
Umgebung werden konnten.
Als sich aber nach zwei Jahren einige der erzielten Remissionen mit
Wiedereintritt in die Berufstätigkeit als dauerhaft erwiesen hatten und
andererseits die Geimpften auch in bezugauf Malaria vollkommen rezidiv
frei geblieben waren, habe ich die Versuche im September 1919 in großem
Umfang wieder aufgenommen. Seither hat diese Behandlungsmethode
eine rasch zunehmende Verbreitung erfahren. Ein großes Verdienst um
das Bekanntwerden derselben haben sich die Herren WEYGANDT und
NoNNE inHamburg erworben, die, angeregt durch meine erste Mitteilung,
die Malariatherapie an ihrem großen Krankenmateriale erprobten und
durch wiederholte Mitteilungen lind durch Vorträge die Aufmerksamkeit
der Kollegen nicht nur in Deutschland, sondern auch im Auslande auf
diese Behandlungsmethode hinlenkten.
Daß die Methode so rasche Verbreitung finden konnte, war dadurch
ermöglicht, daß sich bei der weiteren Beschäftigung mit ihr herausgestellt
hat, daß die Impfmalaria nicht ganz dasselbe ist, wie die natürliche
Malaria, vor allem in bezug auf die Chininempfindlichkeit; daß man also
die Impfmalaria durch wenige Chinindosen zur vollständigen und
dauernden Heilung bringen kann. Damit war die beruhigende Gewißheit
erreicht, daß die Geimpftennach Ab s c h 1u ß der Behandlung keine Gefahr
für die Umgebung sein konnten. Und durch einen Versuch, über den ich
IV Vorwort.
auf der Naturforscherversammlung in Innsbruck 1924 Mitteilung gemacht
habe, scheint auch erwiesenzusein, daßdielmpfmalaria durchAnopheles
stich nicht übertragbar sei, daß also die Geimpftenauch während der
Kur keine Gefahr für die Umgebung seien.
In den letzten Jahren sind durch das Zusammenwirken vieler Arzte
eine Menge von Erkenntnissen über diese Behandlungsmethode zutage
gefördert worden, so daß eine zusammenfassende Darstellung unserer
Kenntnisse wünschenswert werden mußte.
Dieser Aufgabe hat sich Herr Dozent Dr. GERSTMANN unterzogen.
Er ist gewiß ein dazu Berufener, denn er war seit der Wiederaufnahme
der Malariaimpfungen im Jahre 1919 mein eifrigster Mitarbeiter
auf diesem Gebiete und hat an meiner Klinik, an der die mit Malaria ge
impften Paralytiker die Zahl 1000 schon längst überschritten haben,
Gelegenheit gehabt, Erfahrungen zu sammeln, wie nicht leicht ein anderer.
Möge sein Buch recht weite Verbreitung erlangen und sehr viele
Arzte ermutigen, sich mit dieser Behandlungsmethode vertraut zu machen.
Daß sie dieselbe enttäuscht wieder aufgeben werden, besorge ich nach
eigenen und fremden Erfahrungen über ihre Wirkung nicht.
Wien, Jänner 1925.
Wagner-Jauregg.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
I. Zur Geschichte der Infektionstherapie. Ein Überblick über die bis
herigen unspezifischen Behandlungsmethoden der progressiven
Paralyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
ll. Die Malariaimpfbehandlung der progressiven Paralyse. . . . . . . 18
A. Die ersten Behandlungsversuche mit Malaria tertiana und ihre
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
B. Wiederaufnahme des Malariabehandlungsverfahrens und des-
sen allgemeine Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . 24
1. Indikationsstellung zur Malariaimpfbehandlung. . . . . 25
2. Die Wahl des Impfmateriales und die Vorsichtsmaßregeln
bei derselben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
3. Technik der Malariaimpfung . . . . . . . . . . . . . 37
4. Die Konservierung des Malariaimpfblutes in infektions
fähigem Zustande . . . . . . . . . . . . . . . . 43
5. Die Inkubationsdauer der Impfmalaria . . . . . . . . . 49
6. Prodrome, Ausbruch, Verlauf und Höhe des Impfmalaria-
fiebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
7. Ausmaß der Malariawirkung. Zahl und Stärke der Fie
beranfälle. Einwirkung kleiner Chiningaben auf die
künstliche Malariainfektion . . . . . . . . . 54
8. Die Unterbrechung der Impfmalaria durch Chinin . . . . 58
9. Zur Frage einer spezifischen Nachbehandlung bei der Ma
lariatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
10. Die noso1ogische Sonderstellung der Impfmalaria . . . . 65
11. Unübertragbarkeit der in größerer Passagenzahl fortge
züchteten Impfmalaria (tertiana) durch Anophelen im ex
perimentellen Versuch . . . . . . . . . . . . . . 73
12. Zur Frage der Immunität und Reinfektion der Impfma-
laria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
13. Über die klinischen Ergebnisse in unserem malariabehan-
. delten Paralytikermaterial . . . . . . . . . . . . 79
14. Die durch andere Autoren erzielten Behandlungsresultate . 106
15. Über das Verhalten der Reaktionen im Serum und im Li
quor bei malariabehandelten Paralytikern . . . . . . . 132
16. Histologische Hirnbefunde bei (interkurrent verstorbenen)
malariabehandelt(m Paralysefällen . . . . . . . . . . 138
VI Inhaltsverzeichnis.
Seite
17. Reaktive Abänderung des typischen klinischen Bildes der
Paralyse in eine atypische psychotische Erscheinungsform
im Gefolge der Malariaimpfbehandlung . . . . . . 155
a) Deliraute und amentielle Reaktionen . . . . 156
b) Sukzessive Umwandlung in halluzinatorische, para-
noide und katatoniforme Zustandsbilder. . . 156
18. Zur Frage nach dem wirksamen Prinzip der Malariatherapie 17 4
19. Über die Malariabehandlung der einfachen Syphilis und
über die Frage nach der Möglichkeit einer Paralyseprophy-
laxe . . . . . . . . . . . 178
m.
Rekurrensimpfbehandlung der Paralyse ............. 185
IV. Unterschied zwischen spontanen und nach Infektionsbehandlung zur
Entwicklung gelangten Remissionen bei der Paralyse 200
V. Schlußwort . . . . . 210
Literaturverzeichnis . 211
Sachregister .. 226
0 0 0
I. Zur Geschichte der Infektionstherapie.
Ein Überblick über die bisherigen unspezifischen Be
handlungsmethoden der progressiven Paralyse.
Die Malariaimpfbehandlung der Paralyse präsentiert sich als die
letzte Auswirkung einer Reihe langjähriger, konsequenter, unspezifischer
Behandlungsversuche, deren Leitgedanke die Erkenntnis war, daß
mittels alleiniger Anwendung spezifischer Behandlungsmaßnahmen der
verschiedensten Art eine nachhaltige günstige Beeinflussung des para
lytischen Krankheitsprozesses trotz seiner unzweifelhaften syphilitischen
Ätiologie nicht zu erzielen sei.
Die klinische Psychiatrie war bis zu einer nicht weit zurückliegenden
Zeit gegenüber jeglichen Bestrebungen einer therapeutischen Einwirkung
auf den V erl auf der progressiven Paralyse von einem auffallend tief
greifenden Fatalismus beherrscht. Es durfte an der Lehre nicht gerüttelt
werden, daß die Dementia paralytica eine fortschreitende, unheilbare,
innerhalb weniger Jahre unaufhaltsam zum Tode führende Krankheit
sei. Trotzdem hat es nie an Bemühungen gefehlt, die Paralyse irgendwie
kurativ zu beeinflussen. Einschlägige Mitteilungen reichen in ihren An
fängen auf mehr als ein Jahrhundert zurück. Es gibt kaum ein Verfahren,
das nicht gelegentlich gegen diese Krankheit in Anwendung gebracht
wurde, verschiedene, darunter auch mehr oder minder heroische, Maß
nahmen wurden in früheren und späteren Jahren gegen dieselbe versucht,
ohne daß man ihr beikommen konnte. Es sind ja wohl hin und wieder
Heilwirkungen bei der Paralyse berichtet worden; aber die in der Literatur
mitgeteilten Fälle hielten hinsichtlich der Richtigkeit der Diagnose einer
strengen Kritik oft nicht stand; überdies traten nicht selten bald wieder
Rückfälle ein, die den Kranken unerbittlich dem fatalen Ende zuführten.
Es konnte im allgemeinen durch die verschiedenen Behandlungsprozeduren
ein wesentlicherer Heilerfolg nicht erzielt und der natürliche Ausgang der
Erkrankung nicht verhindert werden, kein Wunder, daß man sich mit
der Unbeeinflußbarkeit des Leidens als einer unabänderlichen Tatsache
Gers t man n , Die Malariabehandlung. 1
2 Zur Geschichte der Infektionstherapie.
abzufinden suchte. Nun zeigte es sich aber immer wieder, daß im Laufe
der progressiven Paralyse - insbesondere bei der manischen Form der
selben- auch ohne Behandlung, auf natürlichem Wege Stillstände und
mehr oder minder weitgehende Remissionen eintreten können, die ge
legentlich auch zu einem Rückgang voll entwickelter psychischer Er
scheinungen führten, Berufsfähigkeit erzeugten und Heilung vortäuschten.
Freilich waren derartige Spontanhesserungen in der Regel von kurzer
Dauer; es kam nach Wochen oder Monaten bald wieder zu Rückfällen,
und die weitere Progression des Leidens war dann eine unaufhaltsame.
Jedoch wären diese, wenngleich nur temporären, Remissionen dennoch
geeignet gewesen, zu mindestens theoretisch die Rückbildungsfähigkeit
des Krankheitsprozesses der progressiven Paralyse, bezw. die Heilungs
möglichkeit derselben wahrscheinlich z:u machen. Die stetige Erfolglosig
keit der therapeutischen Bestrebungen hatte aber dessenungeachtet
zwangsläufig dazu geführt, das Dogma von der Unheilbarkeit der pro
gressiven Paralyse aufzustellen.
Als man den ätiologischen Zusammenhang der progressiven Paralyse
mit vorangegangener luetischer Infektion mehr und mehr kennen lernte
und als nach der Entdeckung der W assermannschen Reaktion im Blut
und später im Liquor der Paralytiker, nach dem zuerst durch NüGUCHI
und dann durch eine Reihe anderer Autoren (besonders durch JAHNEL}
erbrachten Nachweis von Spirochäten im paralytischen Gehirn und end
lich nach gelungenen Übertragungsversuchen von Syphilis auf Tiere durch
Überimpfung von paralytischer Hirnsubstanz oder Liquor - der
einwandfreie Beweis für die syphilitische V erursachung der Paralyse er
bracht war, eröffnete diese Erkenntnis eine hoffnungsvolle Aussicht auf
eine günstige Beeinflussung des Leidens mittels spezifischer Behandlung
und führte begreiflicherweise dazu, daß sich die therapeutischen Be
mühungen nunmehr auf verschiedene Anwendungsformen von anti
luetischen Mitteln konzentrierten. Man hoffte so, den Spirochäten im
Gehirn direkt oder indirekt beizukommen, sie entsprechend zu schädigen
und ihre Vermehrung zu verhindern. Und es schien tatsächlich, als wenn
das Dogma von der Unbeeinflußbarkeit der Paralyse ins Wanken kommen
sollte. Aber die Erwartung, auf diese Form der Metalues mittels alleiniger
Anwendung von Quecksilber- und Jodpräparaten, Mitteln, die bei den
sonstigen Krankheitsäußerungen der Syphilis so erfolgreich sein können,
günstig einzuwirken, hat sich nicht erfüllt. Der paralytische Krankheits
prozeß hat sich gegen jede der üblichen spezifischen Behandlungsarten
refraktär erwiesen. Nachdem aber die auf sicherem Boden fußende
Lehre von der syphilitischen Ätiologie der Paralyse einmal Allgemein
verbreitung gefunden, hat man sich es nie mehr nehmen lassen, Paralyse
kranke mit antiluetischen Mitteln zu behandeln. Und es kann wohl nicht
geleugnet werden, daß auf diesem Wege gelegentlich, insbesondere in den
Einleitende Bemerkungen. 3
Initialstadien der Erkrankung, Besserungen erzielt wurden. Es waren
dieselben aber gewöhnlich unvollständiger Natur und, was das Wichtigste
ist, nur von sehr kurzer Dauer. Es gelang in der Regel nicht, mittels
alleiniger Anwendung von Quecksilber- und Jodpräparaten anhaltende
Remissionen herbeizuführen, bezw. die Progression der Krankheit auf
zuhalten. An diesem Stand der Dinge hat sich auch nach der Entdeckung
des Salvarsans durch PAUL EHRLICH, das einen neuen Anstoß zu spezi
fischen Behandlungsversuchen gab, im wesentlichen nichts geändert.
Auf die anfänglichen begeisterten Berichte folgte bald eine gründliche
Enttäuschung. Die zusammenfassenden Referate von E. MEYER aus
dem Jahre 1912 und von ENGE aus dem Jahre 1916 ergeben, daß die
Erfolge der Salvarsanbehandlung bei der progressiven Paralyse durchaus
nicht irgendwie ermutigende waren. Die Erkenntnis der luetischen Be
dingtheit der Erkrankung hatte jedoch das therapeutische Denken all
zusehr beeinflußt, und so hatte man sich ungeachtet der negativen Er
gebnisse von einer weiteren Fortsetzung der Behandlungsversuche nicht
abhalten lassen. Hatte sich der eine nicht als wirksam erwiesen, so wurde
ein anderer in Angriff genommen. Nachdem die bei der gewöhnlichen
Lues üblichen Applikationsmethoden der Antisyphilitica keine ent
sprechenden Erfolge zeitigten, versuchte man es mit neueren Salvarsan
präparaten (Salvarsannatrium, Silbersalvarsan, Sulfoxylat), man zog
neuere in die allgemeine Luestherapie eingeführte Mittel heran (Wismut,
Mirion u. a.), man versuchte es mit der Anwendung größerer Salvarsan
mengen durch Steigerung der Einzel- wie der Gesamtdosis1) und mit
häufiger Wiederholung der Salvarsankuren, man versuchte ferner in der
Absicht, dem Gehirn möglichst nahezukommen, eine interarterielle V er
abreichung des Salvarsans (nach der Angabe von KNAUER) auf dem Wege
der A. Carotisinterna u. dgl. mehr. Es entsprachen aberalldiese Versuche
keineswegs den Erwartungen. Man entschloß sich schließlich, die anti
luetische Substanz direkt in den Subarachnoidealraum einzubringen, von
der - theoretisch allerdings sehr mangelhaft fundierten - Vorstellung
ausgehend, daß dieselbe so in eine möglichst innige Berührung mit dem
Gewebe des Zentralnervensystems und den darin enthaltenen Spirochäten
gelangen und eine unmittelbare spirillozide Wirkung entfalten könnte. Es
entstanden nun die verschiedenen intraspinalen Behandlungsmethoden
(WECHSELMANN, MARrnEsco, RoBERTSON, Swr:FT-ELLIS, GENNERICH,
0. FöRSTER, STEWART-PURVES, LAFORA, BYRNES u. a.), von denen die
Methode der intralumbalen Injektion von salvarsaniertem Serum nach
SWIFT-ELLIS in Amerika und die Methode der intraspinalen Einspritzung
1) WEICHBRODT hat sich bei seinen Behandlungsversuchen der Paralyse
mit hohen Salvarsandosen bis zur Einzeldosis von 4·0 Salvarsannatrium,
bzw. 1·0 Silbersalvarsan hinaufgetastet, ohne bessere Erfolge zu erzielen als
mit der .gewöhnlichen Dosierung.
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