Table Of ContentWISSENSCHAFT UND HYPOTHESE
======XII======
DIE LOGISCHEN GRUND
LAGEN DER EXAKTEN
WISSENSCHAFTEN
VON
DR. PAUL ~ATORP
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LEIPZIG UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
1910
COPYRIGHT 1910 BY B. G. TEUBNER IN LEIPZIG.
ALLE RECHTE,
BlNSCBLIEs.5LICH DBS "ÖBERSBTZUNGSRECHTS. VORl31tHAl.TltN.
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VORWORT
Die notwendige Wechselwirkung zwischen Philosophie
und positiven Wissenschaften verbirgt sich in solchen Zeiten,
in denen die Arbeit beider in festen Geleisen, gleichsam
geradlimg oder in kaum merklicher Richtungsänderung
fortschreitet; sie tritt deutlich zutage an den entscheiden
den Wendepunkten. .
Wir stehen jetzt mitten in einer Periode mächtiger Um
wälzungen beider, der Wissenschaften und der Philosophie;
und so sind in letzter Zeit die Berührungen zwischen beiden,
die Jahrzehnte hindurch keine beträchtliche Änderung er
kennen ließen, zusehends enger und lebendiger geworden.
Zwar hat es die Philosophie gewiß auch in der hinter uns
liegenden Periode nicht verabsäumt, vor allem mit den
"exakten" Wissenschaften Fühlung zu nehmen und auch
mit ihren neuen Errungenschaften sich in Einvernehmen zu
setzen. Allein es ist zu besorgen, daß dabei weder dem
eigenen Interesse der Philosophie volles Genüge geschehen,
noch die Probleme der exakten Wissenschaften selbst bei
der Wurzel gefaßt worden sind. Denn nach aller Mühe,
welche an die Prinzipienlehre der Mathematik und mathe
matischen Naturwissenschaft auch von bedeutenden Philo
sophen gewendet worden ist, steht man rat- und hilflos den
tiefgreifenden Revolutionen gegenüber, die über diese
Wissenschaften in jüngster Zeit ergangen sind. Durch diese
Revolutionen ist der theoretischen Philosophie ihre alte
Aufgabe in neuer Wucht und Schwere gestellt. Mit bloßer
Übernahme der neuen Errungenschaften (soweit von ge-
a •
IV Vorwort.
sicherten Errungenschaften überhaupt schon geredet werden
darf) und deren Einordnung unter alte Schablonen kann
es nicht getan sein; sondern gerade die Grundlagen der
theoretischen Philosophie, also der Logik (als „transzen
dentaler'' Logik in Kants Sinne) bedürfen einer Um
arbeitung von nicht geringerer Tiefe, als gerade die funda
mentalsten der theoretischen Wissenschaften sie in unseren
Tagen erfahren haben oder zu erfahren im Begriff sind.
Die Gefahr ist beute weit geringer, daß die Philosophie
etwa nochmals, wie in Hegels Zeiten, in das Arbeit.
gebiet der positiven Wissenschaften unbefugt hinübergreifen
sollte, als daß man die spezifische Natur der philosophischen
Aufgabe verkennt, und auf Grundfragen der Philosophie
antworten zu können meint mit Sätzen positiver Wissen
schaft oder oberflächlichen Reflexionen, die an exakte
Grundlagen in oft erstaunlich unexakter Logik angeknüpft
werden. Der heute üppig wuchernden „Naturphilosophie"
solchen Stils kann durch nichts andres wirksam begegnet
werden als durch eine echte Philosophie nicht der Natur,
sondern der Naturwissenschaft auf mathematischer Grund
lage, die der positiven Forschung nicht mehr als die Fragen
entnimmt, die Antworten selbständig erarbeitet.
Freilich fordert ein solcher V ersuch - wie er in diesem
Buche gewagt wird - zugleich eine so umfassende V er
trautbeit mit den exakten Wissenschaften, wie sie für eine•
einzelnen gegenwärtig kaum mehr erreichbar ist. Wer von
uns dürfte heute sich rühmen, die ungeheuren Weiten, in
die diese Wissenschaften sich gedehnt haben, auch nur
rezeptiv zu umspannen; zumal wenn er nicht dieser ein
zigen Seite der philosophischen Aufgabe seine ganze Kraft
widmen kann, sondern, nach der unerbittlichen Forderung
der absoluten Problemeinheit der Philosophie, gleichzeitig
auch den Grundlagen der biologischen und der soziolo
gisch-historischen Wissenschaften sein Studium zuzuwenden
verpflichtet ist? In dieser Beziehung wird jeder, der heute
V
an die Aufgaben der systematischen Philosophie sich her
anwagt, auf Nachsicht rechnen müssen. Er wird bemüht
sein, von den schaffenden Forschem zu lernen und wieder
zu lernen, auch wenn es ein Umlernen ist, das sie von ihm
fordern. Voraus verurteilt aber ist ein jeder Versuch, der
nicht auf solchen letzten philosophischen Fundamenten
fußt, die sicher sein dürfen durch keine der, sei es schon
vollbrachten oder im Gang befindlichen wissenschaftlichen
Revolutionen erschüttert zu werden.
Wenn der gegenwärtige Versuch mit der Zuversicht auf
treten darf, dieser höchsten und zugleich doch unerläß
lichsten Forderung zu genügen, so dankt er dies dem histo
rischen Boden, auf dem er erwachsen ist: dem Boden einer
philosophischen Arbeitsgemeinschaft, der es an dem
wesentlichsten Stück: eben an dem unentbehrlichen Funda
mente einer einheitlichen Problemstellung und Me
thode nicht gebricht. Der „Marburger Schule" ist solche
Festigkeit des Fundaments gesichert durch die in unerbitt
licher Strenge von Anfang bis zuletzt auf dies wesentliche
Ziel gerichtete Arbeit ihres Führers: Hermann Cohen.
Der Kundige wird beim Lesen dieses Buches die tiefe
Wirkung seines gewiß nicht abschließenden, aber an ent
wicklungsfähigen Keimen fast überreichen Gruudwerkes:
der "Logik der reinen Erkenntnis", auf Schritt und Tritt
auch da verspüren, wo der Name nicht genannt ist. Nicht
minder wesentliche Förderung aber ist sich der Verfasser
bewußt der langjährigen Zusammenarbeit mit den jüngeren
Gliedern der Schule zu verdanken, von denen als Forscher
selbständigen Ranges mehrere schon hervorgetreten sind,
andere in kurzem hervortreten werden. Von den letzteren
ist einer, Dimitry Gawronsky - den mit seinem reichen
mathematischen und physikalischen Wissen und Können
zur Seite zu haben dem Verfasser besonders wertvoll war -
deshalb hier zu nennen, weil in einem bald erscheinenden
Werke desselben eine Reihe der Fragen, die in diesem
VI
Buche behandelt sind, gleichfalls zur Sprache kommen
werden. Es ist, auch im rein sachlichen Interesse, nicht
überflüssig, zu bemerken, daß wir beide, von gemeinsamen
methodischen Grundvoraussetzungen ausgehend und an
denselben Problemen arbeitend, wesentlich unabhängig von
j
einander zu nahe übereinstimmenden Ergebnissen gelangt
sind. Es gilt dies besonders auch von dem anstößigsten
Punkte: der Anerkennung des Begriffs des aktuell Unend
lichkleinen und dessen Anwendung auf die Probleme nicht
bloß des Irrationalen (worin wir beide nur die Richtung
von Cantor und Veronese innehalten), sondern auch des
Infinitesimalen. Die letztere Frage konnte in diesem Buche
deshalb im Verhältnis zu ihrer Bedeutung kurz behandelt
werden, weil eine sehr eingehende Untersuchung darüber
in Gawronskys Werk demnächst zu finden sein wird.
Auch der äußeren Fertigstellung des Buches ist die Mit
hilfe der jungen Freunde zugute gekommen. Einige Druck
fehler sind gleichwohl stehen geblieben; sinnstörend wohl
z.
nur einer: S. 123, 5 v. u. iat statt "Vereinigung" "Ver
neinung" zu lesen.
Das vorangeschickte Literaturverzeichnis enthält
die in dem Buche (unter den Nummern des Verzeichniaaes,
in Kursivschrift} zitierten Bücher und Abhandlungen, und
wenige mehr, d. h. nur die wichtigsten von denen, welche
den auf diesem Felde Arbeitenden bekannt sein sollten;
entfernt nicht alle, die der Verfasser selbst eingesehen bat
und für beachtenswert hält.
Das Register möchte einesteils, als Namenregister, ea
erleichtern, den historischen und kritischen Gehalt des
Buches bequem zu übemchauen, andernteils, als Sach
register, die Hauptbegriffe, mit und an denen gearbeitet
l
wird, auch gesondert in prüfende Erwägung zu ziehen.
So ist das Buch in jedem Sinne auf die Fortarbeit an
den Problemen angelegt. Es erhebt nicht den Anspruch,
Abschließendes zu geben, was nach der Natur der Auf-
Vorwort. VII
gabe zurzeit überhaupt nicht möglich ist. Ea würde viel
mehr nur der eigenen Absicht dieses Versuches entsprechen,
wenn er, was die Stellungnahme zu einzelnen Problemen
der exakten Wissenschaften betriJft, durch die planmäßige
Zusammenarbeit von Philosophie und exakter For
schung, zu der er auffordert und die er an seinem Teile
fördern möchte, in einigem vielleicht schon bald überholt
würde. Denn wir erkennen die unzerstörliche Lebenskraft
der theoretischen Philosophie gerade in der unbeschränk
ten Entwicklungsfähigkeit der logischen Prinzi
pien, deren klare Herausstellung und sichere Begründung
dieser Versuch sich zur vornehmsten Aufgabe gestellt hat.
MARBURG, im März 1910 •.
DER VERFASSER.
INHALT
Seite
.m
Vorwort ..... .
Literatu"erzeichnis . XI
Ente■ Kapitel.
Das Problem einer Logik der exakten Wisaenschaften.
§ l. Mathematik und Logik . . . . . . . . . . . . . . . I
§ 2. Irrtum des Formalismus. . . . . . . , . . . . . . 4
§ 3. Grun!f des Irrtums. Synthetische und analytische Rich-
tung des Denkens ............... . 7
§ 4. Genetische Amicht der Erkenntnis. Faktum und Rechts•
grund. Der Proze.Q; die Methode; der Logos selbst . II
§ S· Der Gegenstand als unendliche Aufgabe. Der Zusammen•
bang ................... . 16
§ 6. Das Prinzip des Unpruugs .......... . 23
§ 7. Die Korrelation der logischen Grundmomente. . . . 26
§ 8. Rückblick. Der Gegenstand als Allgemeinausdruck des
Problems der Erkenntnis . . . , . . . . . . . 29
Zweites Kapitel,
Das System der logischen Grundfunktionen.
§ 1. Die Aufgabe des Systems der logischen Grundfunktionen.
Das Urteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
§ 2. Der Grundakt des Bestimmens als Urgestalt des Urteils . 38
§ 3. Urteil und Begriff; Verhältnis beider zum Urakt des Er-
keunens . , . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
§ 4. Der Grundakt der Erkenntnis als synthetische Einheit . . 44
§ 5. Das System der logischen Grundfunktionen als Entwick-
lung des Uraktes der synthetischen Einheit . . . . . 49
I. Die Quantitit.
§ 6. Die Stufen der Quantität . . . . . . 52
II. Die Qualitlt.
§ 7. Die Stufen der Qualität 59
III. Die Relation.
§ 8. Sinn und Aufbau der Relation als Ordnungssynthese ;
. ...............
,,Natur" . 65
§ 9. Die Grundreihe. Das Denkgesetz der Substantialität . 70
§ 10, Zeit und Raum. Beharrung und Bewegung. 72
§ 11. Kausalität und Wechselwirkung . 78
Jnl,ait. IX
IV. Die Modalitlt. Seite
§ 12. Sinn und Begründung der Modalität . . . . . . . . 81
§ 13. Der Stufengang der Modalität. . . . . . . . . . . . 87
§ 14. Die Wirklichkeit der Tatsache in idealistischer Auf-
fassung. Tatsache und W ahmehmung . . . . . . . 92
Drittes Kapitel.
Zahl und Rechnung.
§ 1. Die Grondreihe . . . . . . 98
132 .. KOrridtnisucnhges zaAhnl muenrkdu nAgn zahl . ...... 110038
§ 4. Die Null und die Eins. Der Ableitungsversuch Freges 112
§ 5. Fortsetzung 117
§ 6. Dedekind und andere. Relativität der Eins und Mög-
lichkeit verschiedener Zählungen. 124
§ 7. Zahlgleichung und Zahloperation. 128
§ 8. Die Addition . 131
§ 9. Die Subtraktion. 135
§ 10. Kritische Anmerkung 140
§ II. Multiplikation. 145
§ 12. Division . 151
§ 13. Kritische Anmerkung 154
Viertes Kapitel.
Unendlichkeit und Stetigkeit.
§ 1. Der methodische Sinn des Unendlichen. . 160
§ 2. Das aktuell Unendliche Georg Cantors. . . 165
§ 3. Das Problem des Irrationalen . . . . . . . . 172
§ 4- Mathematische Lösungen. Dedekind ........ 176
§ 5. Lösungen von Weierstraß, Cantor, Pasch, Vero-
nese ..................... 18c
§ 6. Logische Beleuchtung des Problems. Die Stetigkeit und
die qualitative Allheit . . . . . . . . . . . . . . 188
§ 7. Das Transfinite . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
§ 8. Die Zahl als Größe-Veränderliche - und als Funktion 200
1§ 9 . Das Infinitesimalverfabren. . . . . . 208
10. Sinn des Differentialquotienten . . . 213
II. Das Infinitesimale und die Realität . 218
Fünftes Kapitel.
Richtung und Dimension als Bestimmungen
der reinen Zahl.
§§ 1. Die Zahlreihe als gerade Reihe . . . 225
2. Das Kontinuum der Richtungen. . . 231
X /n/,a//.
Seite
1 3. Aus der Geschichte der komplexen Zahl. 237
4. Endgültige Rechtfertigung der Einführung der Begriffe
Dimension und Richtung in die Zahl . 246
1 5. Verhältnis der Begriffe Dimension und Richtung . 253
6. Abschließende Betrachtungen über die Dimensionen der
Zahl . 26o
Sechstes Kapitel.
Zeit und Raum als mathematische Gebilde.
§ 1. Zeit und Raum bei Aristoteles, Plato und Kant.
Das Problem von Anschauung und Denken 266
§ 2. Fortsetzung. Entscheidung über Anschauung und Denken 273
§ 3. Die Zeit als mathematisches Gebilde 281
§ 4. Grundbeziehung zwischen Zeit- und Raumordnung 289
§ 5. Die Gerade als Grundgebilde des Raumes . 293
§ 6. Der dreidimensionale Euklidische Raum. 303
§ 7. Dieg eoMmeetatrpihe"y s.i k der nichteukli.d i.s ch.e n. .R äum.e . ., ,Meta- 309
§ 8. Josef Wellstein über die Grundlagen der Geometrie 318
Siebentes Kapitel.
Die zeit-räumliche Ordnung der Erscheinungen und die
mathematischen Prinzipien der NaturWissenschaft.
§ 1. Die Frage der Existenz der absoluten Zeit und des ab-
soluten Raumes . . . . . . . . . . . . . . 326
12. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
3. Die zeit-räumliche Bestimmung des Existierenden. 341
4. Substanz und Energie. . . . . . . . . . . . . 349
§ 5. Die mechanischen Prinzipien. Der Beharrungssatz 3S7
§ 6. Lösung der Schwierigkeit im Beharrungssatz. . . 361
§ 7. Die drei Gesetze Newtons . . . . . . . . . . 367
§ 8. Das Problem der Masse. . . . . . . . . . . . . 372
§ 9. Das Energieprinzip und der 'Übergang von der Mechanik
zur Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
§ 10. Das Energieprinzip und die Materie. Der „zweite Haupt-
satz" und der Wärmetod . . . . . . . . . . . . 386
§ II. Das Relativitätsprinzip von Lorentz, Einstein, Min-
kowski . . . . . . . . . ,. . . . . . . . . . 392
§ 12. Kritische Beleuchtung des Relativitätsprinzips und Be-
stätigung des Idealismus 399
Register ....... .