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GESICHTSAUSDRUCK
UND SEINE BAHNEN
BEIM GESUNDEN UND KRANKEN
BESONDERS BEIM GEISTESKRANKEN
VON
PROF. DR. THEODOR KIRCHH011-,F
IN SCHLESWIG
MIT 68 TEXT ABBILDUNGEN
Springer-Verlag Berlin Beideiberg GmbH
1922
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN.
©SPRINGER-VERLAG BERLIN HEIDELBERG 1922
URSPRÜNGLICH ERSCHIENEN BEI JULIUS SPRINGER, BERLIN 1922
SOFTCOVER REPRINT OF THE HARDCOVER 1ST EDffiON 1922
ISBN 978-3-662-40752-3 ISBN 978-3-662-41236-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-662-41236-7
Herrn Geheimen Medizinalrat
PROFESSOR DR. HEINRICH QUINCKE
in Frankfurt a. M.
meinem Lehrer und Führer während der Assistenten
zeit an der medizinischen Klinik in Kiel (1878-1880)
in dankbarer Verehrung gewidmet
mit dem Wunsche, daß aus dem starken Stamme
der inneren Medizin Säfte und Kräfte immer weiter
strömen in alle seine jüngeren Zweige.
Vorwort.
Außer dem besonderen Inhalte dieses Buches, das ein bestimmtes
engeres Gebiet der Psychiatrie zu umfassen sucht, ist sein geschichtlicher
Rahmen wesentlich.
Die Entwicklungsgeschichte unserer Wissenschaft beschäftigt uns
Psychiater wieder mehr, seitdem Kraepelin im Anschluß an seine
Schrift "Hundert Jahre Psychiatrie" 1918, sowie im Geleitwort
zu dem 1921 erschienenen Bd. I des Sammelwerkes "Deutsche Irren
ärzte" (dessen Bd. II mit Griesinger beginnend unter der Presse ist),
eine neue Anregung dazu gab, sich mit der Geschichte der führenden
Männer in der Psychiatrie zu beschäftigen. Über die deutsche Irren
pflege und das Anstaltswesen waren wir durch mancherlei Forschungen
schon länger unterrichtet. Mit diesen Gebieten müssen wir nun auch
die Geschichte der psychiatrischen Wissenschaft im einzelnen in noch
immer engere Verbindung zu bringen streben, um dadurch die Grund
lagen zu einer alles umfassenden Geschichte der deutschen Psychiatrie
festzulegen. Für diesen Bau hofft das vorliegende Buch, namentlich
durch die Hervorhebung der Theorie der Nervenkreise, einen kleinen
Grundstein oder Pfeiler zu liefern, der sich bei der Aufrichtung des
Ganzen einmal einfügen läßt.
Die Kostspieligkeit der heutigen Herstellung eines Buches zwang
mich leider gerade die geschichtliche Entwicklung meiner Arbeit sehr
zu kürzen, um den Hauptzweck, die Schilderung des Gesichtsausdrucks,
nicht leiden zu lassen.
Zur Erleichterung der Übersichtlichkeit in den ersten Abschnitten,
für dasNachschlagen von Quellen usw., sind kurze orientierende Literatur
verzeichnisse vor die einzelnen Abschnitte gestellt; später findet man
die Literaturangaben meistens unterm Text der einzelnen Seiten.
Die dadurch gestörte Einheitlichkeit mochte ich dem praktischen Zwecke
der bequemen Orientierung nicht weichen lassen.
Die Zahl und Auswahl der Abbildungen mußte ich wegen der Schwie
rigkeit der Beschaffung etwas einschränken; es ist aber den Bemühungen
des Verlegers gelungen, das einzelne Material gut und klar wiederzugeben.
Schleswig, im März 1922.
Tb. Kirchhoff.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung ..... 1
A. Gesichtsausdruck des Gesunden. (Kurzer Überblick mit Literaturhin-
weisen.) .•..•..... 5
I. Gesichtszüge (Physiognomie) 5
li. Mienenspiel (Mimik des Gesichts) 17
B. Gesichtsausdruck des Kranken . . • . 34
I. a) B3i einigen äußerlichen Zuständen. 34
b) Bei Blindheit . . . . 40
c) Bei Verbrechern 42
li. Bei inneren Krankheiten • • 46
III. Bei psychischen Krankheiten 66
a) Allgemeines • . . . . . • 66
1. Affekte und Gemütsbewegungen 66
2. Reflexkettentheorie von Kassowitz 69
3. J essens Theorie der Nervenkreise nach Bell . 78
4. Sprache und Ausdrucksbewegungen .•...• 90
b) Gruppenweise Einteilung der psychischen Krankheiten. Psy·
chischer Tonus (Griesinger) . . . . . . . . 96
c) Die Bellsehen Nervenkreise (Reflexkreise) •• 127
d) Der Gesichtsausdruck der einzelnen Gruppen 138
C. Die Bahnen des Gesichtsausdrucks • . . . . 185
Schlußsätze •.•.. 215
Kurzer Ausblick auf die Behandlung der Geisteskrankheiten 222
Einleitung.
Vor vielen Jahren fing ich als junger Irrenarzt an, den Gesichtsaus
druck Geisteskranker zu studieren; bald glaubte ich einen Weg gefunden
zu haben zu einer sicheren Beurteilung und Einteilung geistiger Störungen.
In jugendlichem Eifer habe ich noch lange dies Ziel zu erreichen erwartet;
jetzt weiß ich, es ist mir wohl nur zum Teil gelungen. Aber auf dem Wege
dahin habe ich so viel gesehen und gelernt, daß ich ihn anderen zeigen
möchte, die vielleicht ein ähnliches Ziel erstreben; denn für erreichbar
halte ich es auch jetzt noch.
Die größte Schwierigkeit, an der meine Untersuchungen oft scheiterten,
war die Auflösung des flüchtigen Gesichtsausdruckes in seine Bestand
teile; so gut und richtig der rasche Blick den Gesichtsausdruck aufzu
fassen pflegt, so konnten doch selbst die verfeinerten Hilfsmittel der
modernen Technik bisher dieser raschen Diagnose noch nicht folgen.
Ich halte es für den springenden Punkt der mir gesetzten Aufgabe, eine
solche Zerlegung des Gesichtsausdrucks für den langsamer prüfenden
Verstand zu erreichen, um die Fehler der laienhaften Beurteilung mit
Sicherheit beseitigen zu können. Der Laie urteilt "mit einem Blick",
oft richtig und treffend, kann aber sein Urteil nicht begründen; dies
will die Wissenschaft; ob sie es immer kann, bleibt fraglich, aber einen
andern Weg als den der Analyse gibt. es hierfür nicht.
Wenn ich mir anfänglich nur vornahm den Ausdruck des Geistes
kranken zu studieren, so mußte der Gesichtsausdruck beim Ge
sunden in der Untersuchung allmählich eine immer größere Rolle
spielen; doch macht ger~tde dieser Abschnitt am wenigsten den Anspruch
ein erschöpfender zu sein, weil dem Arzt diejenigen Gesichtspunkte inter
essanter sind, die ein Licht auf den kranken Gesichtsausdruck werfen.
Ferner drängte sich bald die Frage auf, ob man vererbte oder e:r
worbene Erscheinungen vor sich habe, ob es sich um seit Beginn des
Lebens bestehendeAbweich ungen oder um spätere Verände
rungen handle. Sehr bald erwies sich dabei auch die möglichst scharfe
Trennung feststehender Gesichtszüge, physiognomischer Merkmale,
von dem beweglichen Mienenspiel, den mimischen Ausdrucksformen
als notwendig. Die Vielseitigkeit der sich hierbei ergebenden Fragen
mag hier schon beispielsweise berührt werden im Gebiet der .Ähnlich
keit. Diese beruht bei Verwandten. vielleicht zum größten Teil auf der
vererbten Gesichtsbildung der festen Grundlagen, aber sicher auch auf
Kir c h h o ff, Gesichtsausdruck. l
2 Einleitung.
der vererbten Funktion der beweglichen Gesichtsteile; dabei ist auch
an die Vererbung derjenigen im Laufe des Lebens sich ändernden Formen
und Funktionen zu denken, die als in der Keimanlage mitgegebene
Wachstumsvorgänge anzusehen sind. In ihnen ist auch der Rassentypus
enthalten. Andererseits kann die Ähnlichkeit durch im Leben hinzu
tretende gleiche Einflüsse, sogar bei ganz verschieden geformten Ge
sichtern, verwandte Ausdruckserscheinungen zeigen und eine über
raschend große werden; diese Erscheinung wird zuweilen bei Eheleuten
beobachtet, häufiger bei Menschen, die in ihrem Beruf gleiche Lebens
bedingungen haben. Es handelt sich dabei um Nachahmung, nicht be
absichtigte, sondern unwillkürliche suggerierte; wie An ton wiederholt
ausführte, die unmittelbaren Ausdrucksbewegungen sind auch Eindrucks
bewegungen für die anderen Menschen. Das Typische beschränkt sich
dabei natürlich auf die beweglichen Teile des Gesichts. Hierher gehört
auch der stereotype konventionelle Ausdruck, den manche Menschen
sich für die Zeit ihres gesellschaftlichen Verkehrs angewöhnen.
Wieviel angeboren, wieviel erworben ist, läßt sich im einzelnen Fall
sehr schwer feststellen; die Vererbung der festen Formen sowohl wie der
beweglichen Teile des Gesichts beginnt aber so früh, daß spätere Ein
flüsse, die ja wesentlich nur die beweglichen Teile treffen, einen weit
geringeren Spielraum behalten. Nach Retzius sind solche individuelle,
von den Eltern vererbte Eigentümlichkeiten, schon vom vierten embryo
nalen Monat an im Gesicht festzustellen.
Außer den späteren äußeren Einflüssen sind diejenigen Einflüsse
des Körper- und Seelenlebens von größter Bedeutung, die von innen
heraus den Ausdruck bedingen. Besonderes Interesse hat von jeher der
Einfluß des Seelenlebens auf den Gesichtsausdruck erregt; in fast
allen älteren Systemen der Physiognomik wird er weitläufig behandelt.
Seit Stahls Lehre, daß die Seele den Körper bildet, kehrt dies
Thema auch im vorigen Jahrhundert in vielen Untersuchungen wieder.
Sehr fesselnd sind die unseres Schiller, der schon während seines ärzt
lichen Studiums in seiner Abhandlung "Über den Zusammenhang der
thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen" im§ 22 eine Physio
gnomik der Empfindungen entwickelte, wobei er in seiner schwung
vollen poetischen Sprache auch dieselbe Frage berührt. In seiner großen
Abhandlung "Über Anmuthund Würde" erweitert er seine Untersuchung,
die einen so großen Teil der auch unser Thema berührenden Fragen in
sich begreift, daß man sie gern immer wieder liest; denn der wissenschaft
liche klare Inhalt wird durch die klassisch schöne Form zu einer reifen
Frucht in goldener Schale.
Ein weiteres Gebiet von großer Vielseitigkeit, mit dem sich unsere
Untersuchung an vielen Punkten berührt, ist die Kunst. Das Studium
des Künstlers sucht zunächst das Typische festzuhalten und wiederzu
geben. Darüber hinaus kann erst der große echte Künstler - vielleicht
oft ohne klare Erkenntnis des Vorgangs - in genialer Auffassung indi-
Einleitung. 3
viduelle Züge hinzufügen. Damit macht er stillschweigend eine Voraus
setzung, die nicht bei jedem Menschen zutrifft; er muß annehmen, daß
das Instrument, auf dem die Seele spielt, das menschliche Angesicht,
in allen den Teilen auf das feinste ausgebildet ist, die einen Ausdruck
zeigen können. Von dem umgekehrten Zusammenhang, daß beim Fehlen
oder bei Mängeln geistiger Vorgänge das vollendetste Angesicht aus
druckslos oder falsch wiederklingt, ist hier noch nicht die Rede. Aber
es drängt sich die Frage auf, ob nicht bei vielen Menschen, vielleicht den
meisten, die mimischen Ausdrucksmittel des Gesichts so unvollkommen
ausgebildet sind, daß sie wenig mehr als typische Züge zu bieten vermögen;
ob das Individuelle mehr aus den Bestandteilen der einzelnen Physio
gnomie, also den feststehenden Gesichtszügen zu erklären ist, während
der verfeinerte Gesichtsausdruck eFst beim höher organisierten Menschen
aus dem Mienenspiel hervortritt 1 Das höhere geistige Leben bildet sich
dann nicht eigentlich das Angesicht selbst, sondern es bildet nur die
Funktion desselben aus. Das normale Gesicht des Kulturmenschen
hat wohl immer annähernd gleiche Bestandteile für das Mienenspiel,
aber erst Übung und Erziehung verfeinern ihre Funktion.
Eine Beschränkung der Verwertung des Gesichtsausdrucks im Leben
und in der Kunst entsteht aus der Neigung des Menschen, seine Eindrücke
aus früheren Erfahrungen zu ergänzen, so daß wir oft etwas in die Dinge
hineinsehen, was ihnen fehlt oder nur angedeutet ist. Es ist auf Bilder
hingewiesen, die einen Vorgang von allgemeiner Bedeutung darstellen,
die wir sofort als typisch erkennen; sobald wir-dann aber erfahren, daß
ein bestimmter Vorgang aus der Geschichte dem Bilde zugrunde liegt,
so erwachsen unserem Verständnis so viele individuelle Zusätze, daß das
Bild ein ganz anderes, ausdrucksvolleres zu sein scheint. Dieser Zu
wachs des Inhalts tritt am deutlichsten in Porträts bestimmter histo
rischer Personen hervor, in deren Gesicht wir dann eine ganze Reihe
von Charakterzügen zu erkennen glauben. Und doch hat sich das Bild
nicht verändert, nur unsere Anschauung ist eine andere geworden.
Heißt das nicht, daß die Ausdrucksmittel seelischen Lebens für sehr
verschiedenartige Zwecke genügen und genügen müssen 1 Das Fehlende
legen wir dann oft erst ·hinein. Ähnlich ergeht es uns beim lebenden
Künstler, dem Schauspieler; nicht immer vermag er dem typischen Aus
druck seiner Rolle zweifellos individuelle Züge hinzuzufügen, weil er
ihre seelischen Gründe entweder selbst nicht empfindet oder sie nicht
wiederzugeben vermag; und doch glauben wir sie zu sehen. Darum liegt
auch die Schlußfolgerung nahe, daß wir oft in den Ausdruck einer be
stimmten, von natürlichen Affekten beherrschten Person etwas hinein
legen, was diese gar nicht auszudrücken gelernt hat oder was sie viel
leicht, in seltenen Fällen, wegen mangelhafter oder fehlender anato
mischer Grundlagen überhaupt nicht ausdrücken kann. Die Ausdrucks
mittel des Gesichts sind für zahlreiche Fälle also zu allgemein, so daß
das Besondere dann erst hineingesehen wird.
1*
4 Einleitung.
Die schon besprochene vorwiegende Wichtigkeit des Mienenspiels
für den Gesichtsausdruck hat sich im Laufe der Zeit auch in meinen
Untersuchungen über den Gesichtsausdruck bei Geisteskranken ge
zeigt, der ja das eigentliche Ziel meiner Arbeit ist. Um das krankhaft
veränderte Mienenspiel diagnostisch zu verwerten, muß man erst die
normalen Gesichtszüge und ihr Mienenspiel abziehen, sowie den negativen
Wert krankhafter Veränderungen und Abweichungen der Physiognomie
berücksichtigen, so daß scheinbar nicht so viel übrig bleibt, wie man für
eine gesicherte Diagnose wünscht. Aber in gewissem Sinne erleichtert
diese Beschränkung auf das übersichtliche Gebiet des Mienenspiels zu
nächst die Untersuchung; hoffentlich und wahrscheinlich werden nach
sorgfältigerem Ausbau dieses engeren Gebietes auch die weiteren mehr
herangezogen.
Auch die wissenschaftliche Forschung im großen zeigt uns oft solche
Beschränkungen, überhaupt Schwankungen in ihren Zielen und Wegen,
und doch schreitet sie stetig vorwärts. Zur Zeit fließt unsere psychia
trische Forschung in einem breiten anatomischen Strombett sicher
dahin, Nebenflüsse aus zahlreichen HUfsgebieten füllen es; die Zeichen
mehren sich, daß der Abfluß sich aufstaut; doch es scheint ein schmäleres,
aber tieferes und zusammenfassenderes Bett sich wieder zu öffnen,
in dem wir sicher und weiter zum Ziele geführt werden: die physiolo
gische Grundlage, auf der alles körperliche und geistige Geschehen ruht.
Einen kleinen Beitrag dazu, daß wir diesen Weg jetzt ins Auge fassen
können, hofft diese Arbeit zu geben; sie versucht es auch gleichzeitig, dem
psychologischen Geschehen dieselbe Grundlage zu sichern. Die in den
letzten Abschnitten entwickelte Theorie der Nervenkreise ist nicht
neu, aber ihre Hervorhebung kann vielleicht gerade jetzt die weitere
Entwicklung unserer psychiatrischen Forschungen unterstützen.
Der Strom der Wissenschaft erfährt nicht nur große Schwankungen;
auch leichtere Schwingungen seiner Wellen unterbrechen bei neuen Vor
sprüngen des Ufers seinen ruhigen Lauf.