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ZUR
ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE
BEGRÜNDET VON PROF. DR. GUSTAV GRÖBERf
HERAUSGEGEBEN VON
DR. KURT BALDINGER
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG
99. HEFT
REINHOLD KONTZI
DER AUSDRUCK DER PASSIVIDEE
IM ÄLTEREN ITALIENISCHEN
MAX NIEMEYER VERLAG / TÜBINGEN 1958
DER AUSDRUCK DER PASSIVIDEE
IM ÄLTEREN ITALIENISCHEN
VON
REINHOLD KONTZI
MAX NIEMEYER VERLAG / TÜBINGEN 1958
Meinen Eltern
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Vorwort 8
Essere + Part. Perf. Passiv 9
Fieri + Part. Perf. Passiv 26
Venire + Part. Perf. Passiv 32
Andare + Part. Perf. Passiv 51
Rimanere + Part. Perf. Passiv 57
Das Passiv in der si-Form 62
Der dicit-Typus 93
Der homo-Typus 100
3. Person Plural 104
Finite Aktivform mit der Bedeutung eines persönlichen Passivs . .107
Avere + Objekt 109
Ricevere + Objekt 113
Avere + Akk. + Part. Perf. Passiv 115
Infinitiv Aktiv = Infinitiv Passiv 116
Essere + da + Infinitiv 125
Adjektive auf -bilis 128
Verzeichnis der benützten Quellen und Werke 132
Vorwort
Das synthetische Passiv des Lateinischen vom Typus vincitur, amatur
ist in den romanischen Sprachen untergegangen. Auch im Italienischen
ist es nicht mehr vorhanden. An seine Stelle sind nun Ersatzformen ge-
treten, denn das Bedürfnis, passivisches Geschehen, also Geschehen, das
auf das Subjekt zukommt und von einem denkbaren Urheber ausgeht,
auszudrücken, bestand weiter. Diese Ersatzformen haben ursprünglich eine
andere Funktion als die des Ausdrucks der Passividee. Das macht sich in
der Weise bemerkbar, daß die ursprüngliche Funktion z. T. weiterlebt,
ja daß immer wieder ein Zurückfallen in die ursprüngliche Funktion statt-
findet, oder aber daß die ursprüngliche Funktion im passivischen Ausdruck
nur mehr mitschwingt, so daß die verschiedenen Ersatzformen für das
Passiv verschiedene Beiwerte bekommen. Wir werden im Laufe der Arbeit
darauf hinzuweisen Gelegenheit haben.
I. Essere + Partizip Perfekt Passiv
Eine der möglichen Ersatzformen für das synthetische Passiv ist die
Konstruktion esse + Partizip Perfekt Passiv. Schon im Konjugations-
schema des klassischen Lateins finden wir diese Form. Da dient sie zum
Ausdruck des Passivs im Perfekt, und zwar sowohl im historischen, als
auch im präsentischen Perfekt. Victus est heißt er wurde besiegt, er ist besiegt
worden. So ist schon das Formensystem des klassisch-lateinischen Verbs
nicht einheitlich synthetisch. Zu einem aktiven Präsens vincit gehört das
Perfekt vicit, während im Passiv der synthetischen Form vincitur die ana-
lytische victus est gegenübersteht.
Herzog, Das to-Partizip im Altromanischen, ZRPh, Beih. 26, S. 104f.,
weist darauf hin, daß im vorklassischen Latein die Tendenz besteht, esse +
Partizip Perfekt Passiv eines imperfektiven Verbs dem synthetischen Passiv
Präsens gleichzusetzen. Amatus est ist also = amatur. Diese Verwendung
unserer Form setzt sich im klassischen Latein nicht durch, denn da ist
amatus est „längst zu einer andern Bedeutung ,er ist geliebt worden' ge-
kommen ... und für das präsentische Passiv steht eben das einfachere
amatur zur Verfügung". Doch wenige Stellen bei den Klassikern zeigen
das Vorhandensein der präsentisch-passiven Auffassung, die, wenn sie
schon Reflexe bei den Schriftstellern hat, im Volkslatein noch weiter ver-
breitet gewesen sein muß. So steht bei Cicero: Quid mirum est ... omne
ab ea (divina Providentia) genus humanum esse contemptum. Cic. Nat.
D. III, 93 (zitiert nach Herzog, S. 105). In dieser Erscheinung zeigt sich
eines: Wichtig für die Entwicklung des Passivs mit esse ist die Aktionsart
des Partizips.
Brugmann, Die mit dem Suffix -to- gebildeten Partizipia im Verbal-
system des Lateinischen und des Umbrisch-Oskischen, Indogermanische
Forschungen V (1895), S. 93, sagt über das Partizip Perfekt: „Als Grund-
bedeutung, ..., läßt sich für die Verbaladjektiva auf -to-s kaum etwas an-
deres angeben, als daß durch sie eine Handlung als anhaftende Eigenschaft
und Merkmal prädiziert wird."
Das -to-Partizip ist also zunächst Adjektiv, und dieses Adjektiv wird
dann auf Grund seines verbalen Bedeutungsinhaltes - sein Stamm ist ja
der Stamm eines Verbs - in das Verbalsystem einbezogen. Der ursprünglich
adjektivische Charakter des -to-Partizips zeigt sich schon im Lateinischen
und erscheint bis auf den heutigen Tag immer wieder in den romanischen
Sprachen. Er ist es auch, der eine völlige Einreihung der Form esse +
Partizip Perfekt Passiv in das Verbalsystem der romanischen Sprachen
10 Essere + Part. Perf. Passiv
verhindert hat. Man kann nämlich für das Romanische nicht schlechthin
sagen, daß esse + to-Partizip das Passiv des betreffenden Verbs ausdrücke.
Dies gilt nur unter gewissen Bedingungen, die Th. Eng wer, Vom Passiv
und seinem Gebrauch im heutigen Französischen, Berliner Beiträge II, 1,
1931, für das Französische herausgearbeitet hat. Die Beziehungen zwischen
to-Partizip und Substantiv sind verschieden, je nach der Stoßrichtung und
der Aktionsart des zum to-Partizip gehörenden Verbs. Diese Beziehungen
hat Herzog S. 86 f. herausgestellt. Liegt dem to-Partizip ein intransitives
Verb zugrunde, so ist das Substantiv in der ihm prädizierten Handlung
aktiv tätig: die Handlung geht oder ging von ihm aus. Liegt dagegen ein
transitives Verb zugrunde, ist das Substantiv passiv beteiligt: die Handlung
vollzieht sich an ihm oder hat sich an ihm vollzogen. Gehört das Partizip
zu einem perfektiven Verb, dann ist die Handlung, die dem Substantiv
prädiziert wird, vergangen. Gehört es zu einem imperfektiven Verb, ist sie
präsentisch.
Es bestehen also folgende Variationsmöglichkeiten:
I. Das Partizip Perfekt ist transitiv und perfektiv: die Handlung ist
passivisch und präterital. Beispiel: porta clausa - die geschlossene Türe.
Eine Handlung spielt hier mit, doch ist sie im Augenblick der Aussage
abgeschlossen, sie ist vergangen. Was jetzt ins Auge gefaßt wird, ist
der aus der Handlung hervorgegangene Zustand.
II. Das Partizip Perfekt ist intransitiv und perfektiv: die Handlung ist
aktivisch und präterital. Beispiel: mulier nupta - die Frau, die geheiratet
hat. Auch hier ist die Handlung abgeschlossen.
III. Das Partizip ist transitiv und imperfektiv: die Handlung ist passivisch
und präsentisch. Beispiel: regio habitata - eine Gegend, die bewohnt wird.
Damit wird nicht ein nach einer vorausgegangenen passiven Handlung
erreichter Zustand ausgedrückt, sondern eine zum Kontext gleich-
zeitige Handlung.
IV. Das Partizip ist intransitiv und imperfektiv: die Handlung ist aktiv
und präsentisch. Beispiel: homo tacitus - ein verschwiegener Mann, ein
Mann, der jet%t schweigt.
Für unsere Untersuchung kommen nur I und III in Frage, weil nur da
das Substantiv passiv an der vorausgegangenen oder stattfindenden Hand-
lung beteiligt ist.
Attributive Verwendung des to-Partizips im Italienischen
Die von Herzog herausgearbeiteten Beziehungen zwischen dem Sub-
stantiv und seinem Partizip Perfekt im Lateinischen gelten auch für das
Italienische. Zwei Fälle sind möglich:
1) Beim Substantiv steht das Partizip eines transitiven perfektiven Verbs.
Dabei wird ausgesagt, daß das Substantiv durch die im Partizip ausgedrückte