Table Of ContentMathematik im Kontext
Ivo Schneider
Archimedes
Ingenieur, Naturwissenschaftler,
Mathematiker
2. Auflage
Mathematik im Kontext
Herausgeber:
DavidE.Rowe
KlausVolkert
DieBuchreiheMathematikimKontextpubliziertWerke,indenenmathematischwichtigeund
wegweisendeEreignisseoderPeriodenbeschriebenwerden.NebeneinerBeschreibungder
mathematischenHintergründewirddabeibesondererWertaufdieDarstellungdermitden
EreignissenverknüpftenPersonengelegtsowieversucht,derenHandlungsmotivedarzustellen.
DieBüchersollenStudierenden,MathematikerinnenundMathematikernsowieanMathematik
InteressierteneinentiefenEinblickinbedeutendeEreignissederGeschichtederMathematik
geben.
WeitereBändedieserReihefindenSieunterhttp://www.springer.com/series/8810
Ivo Schneider
Archimedes
Ingenieur, Naturwissenschaftler,
Mathematiker
2. Auflage
IvoSchneider
MünchnerZentrumfürWissenschafts-und
Technikgeschichte
München,Deutschland
ISSN2191-074X ISSN2191-0758(electronic)
MathematikimKontext
ISBN978-3-662-47129-6 ISBN978-3-662-47130-2(eBook)
DOI10.1007/978-3-662-47130-2
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Vorwort zur II. Auflage
Mein 1979 erschienenes Buch über Archimedes war, dem Reihentitel „Erträge der
Forschung“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft geschuldet, zunächst ein Bericht
über die bis dahin erzielten Ergebnisse der Archimedesforschung. Unter der Voraus-
setzung, dass der Bericht dem damaligen Forschungsstand weitgehend entspricht, was
Wilbur Knorr in seiner 1987 erschienenen kommentierten Bibliographie zur Archi-
medesforschung bestätigt hat, bleibt er unabhängig von dem inzwischen erreichten
Forschungsstand ein gültiges Dokument. Natürlich ist die Archimedes-Forschung in
den seither vergangenen 36 Jahren nicht stehen geblieben. Allerdings hat sich an den
von Archimedes selbst stammenden Quellen nicht viel geändert trotz des seit 1998 der
ForschungwiederzugänglichenPalimpsests,dergroßeTeiledervonHeibergalsKodexC
bezeichnetenSammlungArchimedischerSchriftenausdem10.Jahrhundertenthält.Die
beiden nur in diesem Palimpsest zu findenden Texte der so genannten Methodenschrift
undeinesStomachionbetiteltenFragmentswarenbereitsHeibergbeiseinenBesuchenin
Konstantinopel in den Jahren 1906 und 1908 zugänglich. Ob sich an der Edition dieser
beiden Texte Wesentliches gegenüber der Heibergschen von 1913 geändert hat, wird
ersteinebisjetztnichtvorliegendeendgültigeNeueditionzeigenkönnen.Grundsätzlich
ist der Palimpsest heute etwa wegen der nach 1908 erfolgten Übermalungen und durch
Schimmelfraß eingetretenen Schäden in einem wesentlich schlechteren Zustand als ihn
Heiberg noch vorfand. Trotz der inzwischen verfügbaren technischen Methoden, mit
denen kleinste im Pergament verbliebene Pigmentreste der im 10. Jahrhundert verwen-
deten Eisengallustinte sichtbar gemacht werden können, hatte Heiberg sogar in einigen
Teilen bessere Voraussetzungen, den zur Neubeschriftung mit einem liturgischen Text
im 13. Jahrhundertausgelöschten Text der ursprünglichenBeschriftung aus der zweiten
Hälftedes10.Jahrhundertszuerschließen.
Essei auch daraufhingewiesen,dass sowohlHeibergals auch denheutigenBearbei-
tern dieser Texte in vielen Fällen nur Reste von Wörternoder auch nur von Buchstaben
zur Verfügungstanden bzw. stehen. IhreErgänzungzu einem sinnvollen Text erforderte
underfordertnebenentsprechendenphilologischenKenntnissenundVertrautheitmitder
DiktionvonArchimedesaucheinhohesMaßanIntuition,derenErgebnisfastimmernur
einengewissenGradvonWahrscheinlichkeitbeanspruchenkann.
V
VI VorwortzurII.Auflage
Auch wenn in jüngster Zeit als besonderes Erfordernis der Forschung die Berück-
sichtigungdesKontextes,indemgriechischeMathematikerwieArchimedesihreWerke
schufen,betontwird,hatsich auchhier andendafürzuständigenQuellenseit 1978we-
nig geändert. Ergänzend zu den seit langem verfügbaren Texten antiker Ingenieure und
BaumeisterwieKtesibiosoderVitruv,Naturwissenschaftler,vorallemAstronomen,His-
toriker, Philosophen, Schriftsteller oder Dichter könnten allenfalls die Befundejüngerer
archäologischerForschungfürdieRekonstruktioneinessolchenKontextesherangezogen
werden.AberzurBeantwortungvonFragen,dieetwadieVersorgungderBewohnervon
Syrakus,einerderbevölkerungsreichstengriechischenStädte,wennnichtgarderdamals
größtengriechischenStadtdesMittelmeerraumes,betreffen,gibtesseitensderArchäolo-
giekeineneuenErkenntnisse.Dabeiistklar,dassalleinderWasserbedarfeinerStadtmit
einigen hunderttausend Einwohnern ohne entsprechende technische Einrichtungen und
ohneeinedafürzuständigeOrganisationnichtbefriedigtwerdenkonnte.Währendfürdas
antike Rom und Pergamonzumindest die Zuführungdes Trink- und Badewassers durch
Aquäduktebzw.Druckwasserleitungenbelegtist,weißmanüberdieVerteilungdesQuell-
wassersetwadesArethusa-BrunnensinSyrakusimEinzelnenbisheutenichts.Dabeibot
diese reiche Handelsstadt nicht nur hinsichtlich ihrer Wasserversorgung eine Fülle von
Problemen,dienurdurcheinenichtmehrgeringeAnzahlvonFachleutengelöstwerden
konnten.WieweitArchimedesdaranalsein,wievonPlutarchbehauptet,demHerrscher
nahestehenderBeraterbeteiligtwar,istnichtbekannt.VondenantikenHistorikernwird
überwiegendnuraufseineLeitungderVerteidigungderStadtgegendiebelagerndenRö-
merindenJahren213und212vorChristushingewiesen.
WahrscheinlichgemachtetwadurcheinenBerichtvonCicerosinddiealsKriegsbeute
nach Rom gebrachten beiden von Archimedes konzipierten Planetarien. Sie waren wie
dasjüngerevorderInselAntikytheragefundene,alsPlanetariumdienendeInstrumentaus
einemMetallwieBronzegefertigt.DieHerstellungeinessolchenInstrumentserforderte
übermathematisch-astronomischehinausfeinmechanischeundvorallemmetallurgische
Kenntnisse. Dazu musste esin der Stadt diedafürnötigenFacharbeiter undWerkstätten
gegeben haben. Auch die Verarbeitung von Edelmetallen für die Prägung von Münzen
oderdieberühmte,heutez.T.skeptischbeurteilteGeschichtedervonArchimedesberich-
tetenAufdeckungdesBetrugseineGoldschmiedslegtzumindestnahe,dassinderStadt
diedafürnotwendigenpersonellenundtechnischenVoraussetzungengegebenwaren.Dies
giltnatürlichauchfürdieregeBautätigkeitvonHieronII.unddenBauvonHandels-und
Kriegsschiffen, mit dem Archimedes auch in Verbindunggebracht wurde. Für die Akti-
vitäten von Astronomen und Mathematikern wie Archimedes sollte man, wenn man für
die erforderliche Ausbildung nicht zu Lehrern und Institutionen außerhalb von Syrakus
zugehengezwungenwar,zumindestübereine,vielleichtauchnurkleineFachbibliothek
in Syrakusverfügthaben.Dass für alldies, durchausnichtüberraschend,Bestätigungen
durchdieArchäologiefehlen,sollnurbesagen,dassvondieserSeiteeineHilfestellungzur
RekonstruktiondesgefordertenKontextes,zunächstverstandenalsdieGesamtheitderfür
dasWirkenvonArchimedesrelevantenmateriellenBedingungen,nichtzuerwartenist.
VorwortzurII.Auflage VII
Beispielewiediesegenügen,umdarzutun,dasssichauchindieserHinsichtdieQuel-
lenlage seit 1978 nicht wesentlich verändert hat. Inwieweit allerdings die verfügbaren
Quellen seither tatsächlich und in welcher Form genutzt wurden, ist eine andere Frage,
aufdieichzurückkomme.Zunächstsollabergefragtwerden,obmeinArchimedes-Buch
von1979auchheutenochBedeutungunddamitverbundenInteressebeanspruchenkann.
VonwissenschaftlicherRedlichkeitabgesehen,diejazueinerkorrektenBerücksichtigung
frühererreichter Befundeverpflichtet,ist dieAntwortdarauf vor allem abhängigdavon,
obundwenn,wieweitfrühereForschungsergebnissedurchneuereUntersuchungenaußer
Kraftgesetztwerden.EinKriteriumdafür,dasseinfrüheresErgebnisweilnunangeblich
obsoletnichtmehrerwähntwerdensollte,istdievomAutorgewählteDarstellungsform.
DadieAnzahlderjenigenständigabnimmt,diealtgriechischeoderimdorischenDia-
lekt, wie er im Syrakus von Archimedes üblich war, abgefasste Texte lesen oder gar
verstehen können, sind die meisten der an der Mathematik des Archimedes Interessier-
ten auf eine Übersetzung in eine ihnen geläufige Sprache angewiesen. Ihnen wird eine
solche Übersetzung, auch wenn sie die Schritte der Argumentation mit Hilfe der beige-
fügtengeometrischenDarstellungenmiteinigerMühenachvollziehenkönnen,oftfremd
erscheinen, weil sie dem durch ihremathematische Ausbildungnahegelegten Vorgehen
nicht entspricht. Unter Verzicht auf griechische mathematische „Authentizität“ werden
solche Leser versuchen,eine weitere Übersetzung in die ihnen geläufigemathematische
Sprache zu erhalten und sich damit möglicher Weise von der Denk- und Vorgehenswei-
segriechischerMathematikerentfernen.Dievonfrüheren,vorallemausderMathematik
kommenden Historikern stammende Behauptung, dass einem Großteil der griechischen
MathematikeineAlgebrazugrundelag,diedieGriechenhintereinerreingeometrischen
Darstellungversteckten,wurdevonSabetaiUnguruineinemumfangreichenArtikelvon
1975alsunhistorischundunprofessionellvehementzurückgewiesen.UngurusArbeitvon
1975 führte zu einer heftigen Reaktion von renommierten Mathematikern wie B.L. van
der Waerden undAndréWeil undschließlich 1979zu einer Erwiderungvon Unguru,in
derereinevölligeNeufassungdergriechischenMathematikforderte.
ZurBeurteilungderAngemessenheitoderauchUnangemessenheiteinersolchenFor-
derunggilt es z.B. zu unterscheiden,ob ein Autor den Inhalteines griechischen mathe-
matischenTextesetwaimGewandderAlgebraunterHinweisaufdieeigentlichzugrunde
liegendegeometrischeArgumentationimOriginaldarstellt,oderoberbehauptet,dieal-
gebraischeDarstellungentsprechedereigentlichenDenkweisederGriechen.
Dievor1975erschienenenArbeitenvielerHistoriker,insbesonderedasinArtikelnvon
1938bis1944vonE.J.DijksterhuisinholländischerSpracheerschieneneWerküberAr-
chimedes, das 1958 in überarbeiteter Form ins Englische übersetzt und erneut 1987 mit
dererwähntenBibliographievonKnorrveröffentlichtwurde,sindfreivonBehauptungen
obiger Art. Dijksterhuis hat sich darin ausdrücklich von der durch Unguru viele Jahre
später kritisierten Übersetzung griechischer geometrischer Darstellung in algebraische
Symbolik als der griechischen Denkweise nicht entsprechend distanziert. Unter sorgfäl-
tiger Berücksichtigung der Eigenart griechischer geometrischer Denkweise hat er eine
VIII VorwortzurII.Auflage
eigeneSymbolikeingeführt,mitderBegriffewieetwaRechteckmitdenSeitenaundb,
Kreis mit dem Durchmesser d oder das Verhältnis zweier homogener Größen A und B
dargestelltwerden.
Ohne jede Rücksicht darauf hat sich eine Gruppe heutiger Historiker die Forderung
UngurusnacheinerNeufassungdergriechischenMathematikzueigengemachtundsich
damit ein Alibi zu verschaffen versucht, früher erzielte Ergebnisse wider jede wissen-
schaftlicheRedlichkeitzuignorieren.
Im Folgendensollen ausgewählte Beispiele von Ergebnissen der inzwischen erwach-
senen neuen Generation von Historikern der griechischen Mathematik als Brücke zum
heutigen Wissensstand dienen. Der prominenteste Vertreter dieser neuen Generation ist
sicherlich Reviel Netz, der bei Unguru in Tel-Aviv und später bei Lloyd in Cambridge
studierthat.NetzhatineinerspeziellArchimedesgewidmetenArbeitvon1999dasdurch
den erhaltenen Text nahe gelegte Verständnis der Lösung eines von Archimedes formu-
lierten Problems als ein algebraisches Problem in Frage gestellt. Es handelt sich dabei
um die Teilung einer Kugel durch eine Ebene in zwei Segmente in einem gegebenen
Verhältnis. Netz machte die Formulierung der Lösung durch Eutokios für das von ihm
kritisierte Verständnis verantwortlich. Eutokios, der Kommentator einiger Schriften des
Archimedes, lebtemehr als sieben Jahrhundertenach Archimedes. Der Zeitraum schien
Netzausreichend,umeinenentsprechendenWandelinderDarstellungsformdesBeweises
alstypischfürEutokiosabernichtfürArchimedeszuerklären.
Netz hat in seinem Buch The shaping of deduction in Greek mathematics von 1999
behauptet,dassnahezu allevoretwa 1975erschienenenDeutungengriechischer Mathe-
matikentwederalswildeSpekulationenoderalsunhistorischeMachwerkezurückzuwei-
sen sind. Es sei erlaubt, darauf hinzuweisen, dass Netz in diesem Buch und in anderen
Arbeiten wiederholt eigene Argumente als unbewiesene, weil u.U. letztlich unbeweis-
bare Hypothesen und damit als spekulativ bezeichnen musste. In einer späteren Arbeit
von2011hater sogareinenSatzin derMethodenschriftdesArchimedesineiner Weise
gedeutet,dieverschiedeneKollegenihrerseitsalswildeSpekulationenablehnen.Eshan-
delt sich dabei um eine Rückprojektiondes mit dem Mächtigkeitsbegriff für unendliche
Mengen von GeorgCantor verbundenenaktualUnendlichenauf Archimedes unter Um-
gehungallerhistorischerforderlichenZwischenschritte.Grundlagefürdiesevonseinem
sonstigen Vorgehenvöllig abweichendeDeutung ist eine der wenigen Ergänzungenund
Änderungender Methodenschriftgegenüberder von Heiberg edierten Fassung in einem
2011veröffentlichtenvorläufigenText.Dort(S.119)findetsich,wennmandiemitdiesen
ErgänzungenverbundenenFragezeichenunberücksichtigtlässt,dreimalimGriechischen
ein Ausdruck,denman Deutsch mit„sind ihrerAnzahlnachgleich“wiedergebenkann;
SubjektwärendabeijeweilszweiMengenvonSchnitten,dienachNetz„klaralsunendlich
anzusehensind“(Netz2011,S.304),obwohlimTextjedeexpliziteAussagedarüberfehlt.
Aberselbstwennmandieszugesteht,fehltjedeRechtfertigungfürdiedamitverbundene
Behauptung,dass Archimedes’ Mathematik weit über dieErrungenschaftendes 17.und
18.JahrhundertshinausbisindieSphärederAuseinandersetzungenumdieMengenlehre
unddamitverbundenumdasaktualUnendlicheGeorgCantorsreicht.
VorwortzurII.Auflage IX
MindestensebensovielErstaunenhatdieDeutungvonNetzdessehrkurzenStomachi-
onbetiteltenFragmentsindemPalimpsestausgelöst.DerkurzeerhalteneTextbetrifft14
Flächenstücke, elf Dreiecke, zwei Viereckeund ein Fünfeck, die sich zu einem Quadrat
zusammensetzenlassen.DerersteTeildeseinleitendenSatzesbesagt,dassdieseFlächen-
stücke eine ποικίλα θεωρία (poikila theoria) gewähren, was dem optischen Hintergrund
derursprünglichenWortbedeutungentsprechendzunächstmit„bunter,verschiedenartiger
Anblick“wiedergegebenwerdenkann.IndiesemSinnistderSatzoffenbarspäterinder
Antike von Autoren wie Marius Victorinus verstanden worden, die aus den 14 Flächen-
stückeneinZusammensetzspielausden14jetztelfenbeinernenFlächenstückenmachten,
mitdemverschiedeneFigurenwieeinElefantgebildetwerdensollten.
Heiberg hat der lateinischen Übersetzung von poikila theoria mit multiplex quaestio
entsprechenddieStellealsvielfältigeFragestellungodervielfältigesProblemaufgefasst,
waswiederumverschiedeneDeutungenzulässt.DemvonHeibergediertenTextfehltaber
nachNetzdiezentraleAussage,diezusammenmitihremBeweisseineAbfassungrecht-
fertigen würde. Eine solche Aussage findet sich allerdings in einer von Heinrich Suter
1899herausgegebenenarabischenFassungdesStomachions.DortheißtesnachderKon-
struktion der 14 Teile des Quadrats: „Wir beweisen nun, dass jeder der vierzehn Teile
zumganzenQuadratinrationalemVerhältnisstehe“.DieseAussagepasstgutzudemBe-
strebenvon Archimedes,dieVerhältnisseverschiedenerKörperwie KugelundZylinder
odervonFlächenwieParabelsegmentundeinbeschriebenemDreieckgleicherGrundlinie
und Höhe sowie von Streckenabschnitten, in die eine Achse wie die Seitenhalbieren-
de eines Dreiecks durch den Schwerpunkt geteilt wird, als rational nachzuweisen. Netz
sahoffenbardieinderarabischenFassungdesStomachionsenthalteneFassungalsnicht
spektakulärgenugfür dieinzwischen gewecktenErwartungenan.Schließlich waren die
überweitmehrals einJahrzehntdauernden,vonvielen PersonendurchgeführtenArbei-
tenandemPalimpsestvoneinemunbekanntgebliebenenMäzeningroßzügigsterWeise
gefördertworden. Vor diesem Hintergrunderschien Netz dieim arabischen Textenthal-
tene Lösung als zu trivial für ein Genie wie Archimedes. Deshalb musste mit Hilfe von
MathematikernundComputerspezialisteneinProblemkonstruiertwerden,dasdenmathe-
matischenFähigkeitenvonArchimedesangemessenundsensationslüsternenJournalisten
ausreichendaufregenderschien.Eserübrigtsichdabeieigentlichfestzustellen,dassfürdie
AnerkennungeinesfachlichenErgebnissesoderauchnurderPlausibilitäteinerHypothese
nichtrelativleichtzumanipulierendefachfremdeJournalisten,sondernalleinkompetente
Fachkollegenzuständigseinkönnen.EinzigeGrundlageaberfürdasVorgehenvonNetz
im FalldesStomachionsisteinebeiHeibergfehlendeErgänzung,derendeutscheÜber-
setzung lautet: „Es gibt also keine kleine Anzahl von Figuren aus denselben“. Zentral
fürdiesePassageistderAusdruck„keinekleineAnzahl“,wobeifürAnzahldasgriechi-
scheWortπλῆθος(plethos)steht.DiesesWortistnachdenverfügbarenAbbildungender
StelleimPalimpsestkaum,wennüberhaupterkennbar.GrundlagefürdieSuchenachdie-
semNetzsinnvollerscheinendenTextundverbundendamitdas„Sehen“und„Erkennen“
der obigen Ergänzung war das von den mit der Suche beauftragten Mathematikern und
Computerspezialisten angebotene Problem. Das einem Zirkelschluss vergleichbare Vor-
X VorwortzurII.Auflage
gehen musste schließlich die Behauptung rechtfertigen, dass es sich bei dem zentralen
ProblemdesStomachionsnurumdenNachweisderrelativgroßenAnzahlvonMöglich-
keitenhandelnkann,ausden14TeilendesQuadratsneueKonfigurationendesQuadrats
zubilden.TatsächlichkannmandasQuadratauf17152Weisenausden14,eigentlichelf
Teilen konfigurieren, weil drei Paare der 14 Teile bei den Konfigurationen nie getrennt
werdenkönnen.SiehtmanvonBewegungen(Drehungen)ab,derenErgebnisjeweilsals
äquivalentmiteinerGrundlösungangesehenwerdenkann,bleibennochimmer536ver-
schiedene solcher Grundlösungen übrig. Die zur Ermittlung dieser Zahlen notwendigen
kombinatorischenMethodenmusstenalsonachNetzArchimedesbekanntgewesensein,
waswiederumfürNetzdieNeuschreibungderGeschichteder(griechischen)Mathematik
mehr als dringlich erscheinen ließ. Aus diesem vergleichsweise Nichts an Aussage eine
beiArchimedes mehroder minder vollentwickelte Kombinatorikzu folgern,ist gemes-
senandemfrüherenAutorengegenübererhobenenVorwurfwilderSpekulationziemlich
erstaunlich.
Niemand wird vernünftigerweise annehmen, dass nach vielen Jahrhunderten nur die
bestenTextegriechischerMathematiküberliefertwurden.Esistvielmehrdamitzurech-
nen,dassdurchverschiedeneEreignisse, wiedieofterwähntenZerstörungengroßeran-
tiker Bibliotheken, auch hervorragendeWerke für immer verloren gingen. Aber wie der
zufälligeFunddesAntikythera-InstrumentsdasWissenumdiefeinmechanischenFertig-
keiten griechischer Instrumentenmacher nahezu schlagartig auf eine wesentlich höhere
Stufehob,bedürfteesimFalldervorgelegtenDeutungdesStomachionseinesganzkon-
kreten,bisheutefehlendenTextes,derArtundUmfangderbehauptetenkombinatorischen
KenntnissevonArchimedesbelegt.
Im Gegensatz zu der Bereitschaft, Archimedes ohne jede Evidenz Kenntnis und An-
wendungkombinatorischerMethodenzuzutrauen,verschwindetderhistorischeArchime-
des bei Netz im diffusen Licht des wenigen, was man allgemein über soziale Herkunft,
Ausbildung und Betätigungsmöglichkeiten griechischer Mathematiker der Antike weiß
oder auch nur vermutet;dies obwohl über Einzelheiten der Biographievon Archimedes
anders als im Text des Stomachions konkrete, wenn auch unterschiedlich glaubwürdige
AngabenvonverschiedenenantikenAutorenverfügbarsind.
Dieser Haltungentsprichtauchdas2008erschieneneBuchvonMaryJägerArchime-
desandtheRomanimagination.Jägernähertsichauskulturgeschichtlicher,insbesondere
literaturgeschichtlicher Sicht den verschiedenen Archimedesbildern von Autoren, ange-
fangenmit Vitruv undCicero bis Petrarca. Beiihr verschwindendievon den genannten
Autoren berichteten biographischen Details über Archimedes hinter der Funktion, als
Spiegel für die eigene, etwa von dem jeweiligen Autor kulturell höher bewertete römi-
sche Identität zu dienen. So wird Archimedes in der Goldkranzgeschichte als ein nackt
durch die Straßen von Syrakus rennender und Heureka schreiender Mann im denkbar
größtenGegensatzzudenVerhaltensnormenderrömischenElitederAugustuszeitdurch
Vitruvdargestellt.AuchCicerogingesbeidemBerichtüberseineWiederentdeckungdes
vondornigemGestrüppüberwuchertenGrabesvonArchimedesim SyrakusnachJägers
InterpretationvorallemumseineIdentifikationmitderRolleeinesVertretersdesinzwi-
Description:Ein Meilenstein der Archimedes-Forschung wieder verfügbar! Ausgestattet mit einem umfangreichen neuen Vorwort, das auf die neueren Forschungsergebnisse eingeht, wird in diesem wegweisenden Werk die bis heute ungeklärte Kernfrage der Archimedes-Forschung behandelt: Ist Archimedes von der Praxis des