Table Of ContentRheinisch -Westfalische Akademie der Wissenschaften
Geisteswissenschaften Vortrage' G 201
Herausgegeben von der
Rheinisch-WestHilischen Akademie der Wissenschaften
WERNER FLUME
Gewohnheitsrecht und romisches Recht
Westdeutscher Verlag
198. Sitzung am 13. November 1974 in Dusseldorf
© 1975 by Westdeutscher Verlag GmbH Opladen
Gesamtherstellung: Westdeutscher Verlag GmbH
ISBN 978-3-531-07201-2 ISBN 978-3-322-90070-8 (eBook)
DOl 10.1007/978-3-322-90070-8
Inhalt
1. Die moderne Lehre yom Gewohnheitsrecht und der Meinungs-
wandel betreffend das romische Recht der klassischen Zeit. . . 7
2. Die Nichterwahnung der consuetudo III den sogenannten
Rechtsquellenkatalogen ................................ 12
3. Die Nichtanerkennung der Kategorie des Gewohnheitsrechts
J
als Wesensmerkmal der urisprudenz der romischen Klassiker 15
4. Stellungnahmen der Kaiser in klassischer Zeit zur consuetudo
in provinzialen Verhaltnissen ........................... 24
5. Die consuetudo in der nicht-juristischen Literatur ... . . . . . .. 29
6. Die Frage des Gewohnheitsrechts fur die klassische Zeit und die
Digesten-Uberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 32
7. Folgerungen zum geltenden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1. Die modernc Lehrc vom Gewohnheitsrecht und der Meinungswandel
betrejfend das romische Recht der klassischen Zeit
Das romische Recht der klassischen Zeit ist nur zu einem geringen Teil
gesetztes Recht, selbst wenn man aIle Satzungen, die Leges und Plebis
zite, die Senatusconsulte, die Kaiserkonstitutionen und die Edikte der
Pratoren, Adilen und Provinzstatthalter einbezieht. Bezeichnet man das
ungesetzte Recht als Gewohnheitsrecht, so kann man sagen, das romische
Recht der klassischen Zeit besteht im wesentlichen aus "Gewohnheits
recht". Nur ist damit nichts anderes gesagt, als daB das als "Gewohn
heitsrecht" bezeichnete Recht nicht gesetztes Recht ist.
Der Begriff des Gewohnheitsrechts ist in der modernen Lehre ausgerich
tet am Gesetzesrecht. Die divisio "Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht"
teilt das genus Recht auf, und beide sind nach der modernen Lehre in
ihrem Wesen gleich, wobei dieses Wesen durch die Vorstellung yom Ge
setzesrecht bestimmt wird. Reprasentativ fur die traditionelle und wohl
noch herrschende Meinung formuliert Lehmann-Hubner1: "Als Rechts
quellen im formellen Sinne einer tauglichen Entstehungsursache des ob
jektiven Rechts kommen nur zwei in Betracht: Satzung und Gewohn
heit." Die Gewohnheit wird dabei dem Gesetz gleichgeachtet. Bei Leh
mann-Hubner heiBt es dazu: "Die Gewohnheit ist eine der Gesetzgebung
ebenburtige RechtsqueIle." Wie in Windscheids Pandektenrecht2 das
Kapitel "Quellen des Rechts" unterteilt wird in "Gesetz" und "Gewohn
heitsrecht", so gilt das gleiche fur die Darstellung der "Lehre von den
Rechtsquellen" bei Enneccerus-Nipperdey. Das Gewohnheitsrecht wird
nach dieser Lehre in seiner Positivitat dem Gesetz gleichgeachtet. In
Dbereinstimmung mit Enneccerus-Nipperdey3 gibt Larenz als h. L.
wieder, unter "Gewohnheitsrecht" verstehe man Normen, die in gleicher
Weise gelten wie ein Gesetz4• Die dauernde Dbung verbunden mit der
1 AUg. Teil § 3, I, 3, 4.
2 9. Auf!. §§ 14ff.; zur Literatur des 19.Jahrhunderts betr. des Gewohnheitsrechts
siehe Zit. bei Windscheid §§ 15-18.
3 AUg. Teil I §§ 32, 35ff.
4 Siehe Larenz, AUg. Teil § 1 I c; Methodenlehre, System. Teil 3. Kap., 3 c. Siehe auch
BVerf.GE 22, 121 u. zit. Entsch.; zum Verfassungsgewohnheitsrecht siehe To
muschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972.
8 Werner Flume
opinio necessitatis wird als Akt der Positivierung gleich dem Gesetzge
bungsakt eingeordnet. Aus der Vorstellung, daB das Recht der Positivie
rung bediirfe, folgert die herrschende Meinung, daB der Gerichtsge
brauch zur Rechtsquelle nur als Gewohnheitsrecht werde, und in Litera
tur und Rechtsprechung sucht man, fUr die vertretenen Rechtsmeinungen
die Qualitat als Gewohnheitsrecht in Anspruch zu nehmen, weil man
meint, daB damit fUr die vertretene Meinung die Geltungsfrage positiv
entschieden sei5• SchlieBlich wird auch die Ansicht vertreten6, daB die in
der Rechtsprechung gefestigten Rechtsvorstellungen einen Teil des Ge
setzesrechts selbst bildeten.
In der modern en Romanistik hat man verneint, daB die romischen
Juristen der klassischen Zeit das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle an
gesehen und anerkannt hatten7• Diese Verneinung war ausgerichtet auf
den aus der Lehre des gemeinen Rechts iiberkommenen Begriff des Ge
wohnheitsrechts, der an dem Gesetzesrecht orientiert ist. Es ging dabei
der modernen Romanistik darum, klarzustellen, daB die Klassiker nicht
den positivistischen Begriff des Gewohnheitsrechts, wie dieser der Lehre
zum geltenden Recht entspricht, vertreten hatten. Kennzeichnend ist,
daB zunachst vor all em von der derogierenden Kraft der Gewohnheit
gegeniiber dem Gesetz gehandelt worden ists. Als Thema probandum -
und probatum wurde angesehen, daB in vorklassischer und klassischer
Zeit zwar Gesetze in desuetudinem gekommen seien, daB diese desuetudo
aber nicht der Aufhebung eines Gesetzes durch Gesetz gleichzuachten sei.
Vielmehr habe die desuetudo lediglich die oblitteratio des Gesetzes durch
faktische Nichtanwendung bedingt, ohne die Geltung des Gesetzes auf
zuheben.
Als besonders anschauliches Beispiel wird9 die "tragica soluzione" 10
des Konflikts zwischen dem Prator Asellius und den zinsnehmenden
Geldverleihern in der von Appian. bell. civ. 1,54 iiberlieferten Anekdote
angefiihrt, nach der Asellius, als er die auBer Gebrauch gekommene lex
Genuciall wieder angewandt wissen wollte, getOtet worden ist. Es wird
6 Siehe Flume, Richter und Recht (Verhandl. 46. Dtsch.Juristentages, 1966, Bd. II,
K, Mtinchen 1967) K 22; Esser, Festschr. Fritz v. Hippel, 1967, 95ff., 99.
6 So Esser a.a. O.S. 129; gegen Esser siehe auch Wieacker, Festschr. Werner Weber
(1974) S. 423.
7 Siehe Zitate bei Kaser, RPrR J2 § 48 N. 21.
8 Siehe Pernice SZ 20, 127ff.; 22, 59ff.; Steinwenter, Stud Bonfante II, 421££.,437;
Solazzi, AG 102, 1929, 3ff. = Scr III, 27; siehe auch Thomas, Tijdschr. 31, 46;
RIDA 12, 1965, 469ff.; Schmiedel, Consuetudo, 1966, S. 97ff. u. S. 99 N 12 Zit.
9 Pernice SZ 20, 150; Solazzi, Scr III, 277.
10 So Solazzi a. a. O.
11 Siehe dazu Rotandi, Leges publicae S. 226.
Gewohnheitsremt und romismes Remt 9
gefolgert, die Geldverleiher hatten sich eben nicht auf die derogatorische
Kraft eines Gewohnheitsrechts verlassen, sie hatten vielmehr, wie Pernice
sagt, die Totung des Asellius "fiir das sicherere Mittel gehalten". Solche
Geschichten - ebenso die von Pernice und Solazzi12 angefuhrte Erzah
lung des Livius (27,8, 6f£') von dem Flamen Dialis Gaius Valerius Flaccus,
der entgegen dem neuen Brauch sich durch Eingreifen der Tribunen den
Zugang zum Senat verschaffte - besagenjedoch in Wirklichkeit nichts fur
die Frage des Gewohnheitsrechts und jedenfalls nichts dafiir, welche
SteHung dieJuristen zur Problematik des Gewohnheitsrechts eingenom
men haben.
In voller Breite und Schade ist die Frage: "Kannte das klassische ro
mische Recht Gewohnheitsrecht?" von Fritz Schulz in einem Vortrag
auf dem Rechtshistorikertag 1932 verneint worden. Der Vortrag ist leider
infolge der Zeitverhaltnisse nicht publiziert worden13• Fritz Schulz hat
seine Ansicht aber in den Prinzipien des Romischen Rechts und in der
Geschichte der romischen Rechtswissenschaft niedergelegt14• Kern der
Stellungnahme von Fritz Schulz ist, daB es in Rom in klassischer Zeit
kein Gewohnheitsrecht im Sinne der modernen Lehre der Gleichsetzung
des Gewohnheitsrechts mit dem Gesetzesrecht gegeben habe. Schulz
raumt in den Prinzipien sogar ein, man moge die sich aus der Verbin
dung der romischen Jurisprudenz und Praxis ergebenden tradition ellen
Satze Gewohnheitsrecht nennen, musse dann aber die Andersartigkeit
gegenuber dem Gesetzesrecht, was die Bindung anbetrifft, beachten. So
heiBt es denn in den Prinzipien: "Das staatlich gesetzte Recht enthalt das
Postulat, befolgt zu werden, auch wenn man (insbesondere der Richter)
es miBbilligt; das romische Gewohnheitsrecht fordert Beachtung nur bis
auf weiteres, nur wenn man es billigt oder wenigstens keine wesentlich
bessere Regel weiB, wobei freilich das Alter der gewohnten Regel ein
gewichtiges Argument fiir ihre Richtigkeit istw ." Entschiedener for
muliert Schulz dann jedoch in der Geschichte der romischen Rechtswis
senschaft15, romisches Gewohnheitsrecht sei "den Klassikern noch voll
kommen unbekannt".
Uber Jahrzehnte war es seit den 30er Jahren herrschende Meinung
unter den Romanisten, daB den Romern bis zum Ende der klassischen
Zeit das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle unbekannt gewesen sei. Als
12 Beide a.a.a.; siehe auch Bove, La consuetudine in diritto Romano 1(1971) S. 62f£.
13 Siehe aber den Bericht von Seidl, SZ 53, 641 £f.
14 Prinzipien S. 9fL; Geschichte S. 28, 71, 162.
14a Prinzipien S. 10.
15 S. 162.
10 Werner Flume
AbschluB dieser bisher herrschenden Meinung ist die 1966 erschienene
Freiburger Dissertation von Schmiedel ,Consuetudo im klassischen und
nachklassischen romischen Recht' zu nennen, welche die herrschende
Meinung als "das gesicherte Ergebnis der neueren Romanistik" noch
einmal zusammenfassend feststellt. Gerade diese Dissertation ist aber zu
gleich der AniaB gewesen, daB wieder eine Gegenmeinung vertreten
worden istl6• Der Wandel der Auffassungen findet seinen sichtbarsten
Ausdruck in der unterschiedlichen Stellungnahme Kasers in seiner Dar
stellung des romischen Privatrechts im Handbuch der Altertumswissen
schaft von der ersten zur zweiten Auflage. Kaser, der 1939 in der Ab
handlung "Mores majorum und Gewohnheitsrecht" ganz den Thesen
17
von Fritz Schulz gefolgt war, statuierte in der ersten Auflage seines Hand
buchsl8, nachdem er die Bedeutung des mos hervorgehoben hatte: "Doch
ist den Klassikern die Vorstellung, daB die fortgesetzte gleichformige
Ubung aus sich heraus ein Gewohnheitsrecht erzeugt, noch fremd."
Kaser berief sich dabei darauf, daB Gaius in seinen Institutionen (1, 1 ff.)
die Gewohnheit nicht unter den Rechtsquellen erwahnt. In der zweiten
Auflage19 heiBt es dagegen bei Kaser: "Der Gedanke, daB die inveterata
consuetudo an Gesetzesstelle stehen kann, daB die allgemeine Volksuber
zeugung den formlichen GesetzesbeschluB der Komitien zu ersetzen ver
mag, und daB dieser Volkskonsens sogar Gesetze per desuetudinem auBer
Kraft setzen (abrogare) kann, wird bereits dem Julian zuzuschreiben
sein." Es geht dabei urn die Julian-Stelle D 1,3,32 pr u. 1, wovon noch
zu handeln ist. Hatte Kaser in der ersten Auflage seines Handbuchs noch
gesagt, die bei Ulpian D 1, 1,6, 1 = Inst 1,2,3,9 uberlieferte Unter
scheidung zwischen "ius ex scripto" und "ex non scripto" stamme von
der zwischen v6{wr; lyy(!lXljJor; und v6flor; liy(!lXljJor; her und sei aus der Rhe
torik wohl erst von der nachklassischen Schuljurisprudenz ubernommen
worden, so heiBt es in der zweiten Auflage, die Herkunft des ius ex
scripto und ex non scripto aus dem v6flor; ~yy(!IXIjJOr; und v6flOr; IiY(!lXljJor;
sei kein Indiz fur den nachklassischen Ursprung des Gewohnheitsrechts.
Kaser wendet sich unter Aufgabe seiner fruheren Ansicht damit unmittel
bar gegen Fritz Schulz, der20 im Zusammenhang mit der These, daB das
16 Zu Schmiedel, Consuetudo, siehe die Besprechungen Gaudemet, Jura 18, 1967,
233ff.; Cannata, SDHI33, 1967, 481ff.; d'Ors, Annuario de historia del derecho
espafiol37, 1967, 643ff.; Mayer-Ma1y, Gnomon41, 1969, 383ff.; Norr, SZ84,
1969, 454ff.; siehe auch CrifD, BIDR 71, S. 93, N. 274.
17 SZ 59, 1939, 52ff.
18 § 48 III.
19 § 48 III, 1.
20 Geschichte der rom. Rechtsw. S. 162.
Gewohnheitsrecht und romisches Recht 11
Gewohnheitsrecht den Klassikern unbekannt gewesen sei, von dieser
Unterscheidung gesagt hatte, sie sei fiir das romische Recht "vollkommen
wertlos" und in die isagogischen klassischen Schriften erst in nachklassi
scher Zeit eingedrungen.
Es ist vor all em Dieter Norr, der sich neuerdings in mehreren Arbeiten21
gegen die Ansicht gewandt hat, nach der das Gewohnheitsrecht von den
romischen Juristen der republikanischen und klassischen Zeit nicht als
Rechtsquelle anerkannt worden ist. Mit Recht geht Norr davon aus,
unbestritten beruhe das romische Recht weithin auf Gewohnheitsrecht
in dem Sinne, daB es Rechtsinstitute und Rechtsgrundsatze gibt, die
nicht auf den fixierbaren Willen eines Gesetzgebers zuriickgefUhrt wer
den konnen. Ihn bewegt fUr das romische Recht die Frage, ob die Rechts
kundigen der jeweiligen Zeit das "Gewohnheitsrecht" in dem angege
benen Sinne als "Rechtsquelle" bewuBt erfaBt haben. Zum Begriff der
Rechtsquelle sagt Norr22: "AIs Kriterium fUr den Begriff der Rechts
quelle geniigt es uns, wenn das Gewohnheitsrecht in ahnlichem Sinne als
Mittel der Rechtsschopfung und Rechtserkenntnis aufgefaBt wird wie
das Gesetz." Auch fiir Norr ist hiernach die Problemstellung betreffs des
Gewohnheitsrechts orientiert am Gesetzesrecht, wenn er es ihm auch
nicht gleichstellt, sondern ihm nur die Ahnlichkeit zumiBt.
Wie eingangs betont, steht es auBer Frage, daB, wenn man das unge
setzte Recht per se als "Gewohnheitsrecht" qualifiziert, das romische
Recht der klassischen Zeit im wesentlichen "Gewohnheitsrecht" ist. Den
Klassikern ist es auch gel au fig, hinsichtlich bestimmter Regelungen da
von zu sprechen, daB sie "moribus" eingefiihrt worden seien22a. Dies
alles ist unstreitig. Darum geht es aber bei dem Thema "Gewohnheits
recht und romisches Recht" nicht. Vielmehr ist zu dies em Thema die
Frage gestellt, ob die Juristen der klassischen Zeit die consuetudo als
Rechtsquelle anerkannt haben, ob sie also die Geltung von "Gewohn
heitsrecht" angenommen haben. Es geht hiernach urn eine historisch
methodologische Frage, namlich, welche Stellung die romischen Ju
risten der klassischen Zeit zu ihrem Recht eingenommen und wie sie
ihre Aufgabe als iuris periti verstanden haben.
u SZ 84, 1969, 454ff.; Festschr. Felgentrager, 1969, 353ff.; Divisio und Partitio, Be
merkungen zur ri:imischen Rechtsquellenlehre und zur antiken Wissenschaftstheorie,
1972.
22 Divisio und Partitio S. 2.
22a Siehe unten S. 18ff.; zum mas maiarum und seiner Bedeutung fUr die Verfassung
der republikanischen Zeit siehe Kunkel, Kleine Schriften, 1974, S. 367ff.