Table Of ContentJoachim Hoffmann
Das aktive Gedachtnis
Psychologische Experimente und Theorien
zur menschlichen Gedachtnisditigkeit
Mit 207 Abbildungen
Springer-Verlag
Berlin Heidelberg New York 1983
Joachim Hoffmann
Humboldt-Universitat zu Berlin
Sektion Psychologie
Oranienburger StraBe 18
DDR - 1020 Berlin
Lizenzausgabe fiir den Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
Vertrieb in allen nichtsozialistischen Landern
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Hoffmann, Joachim:
Das aktive Gedachtnis: psycholog. Experimente u. Theorien zur mensch!.
Gedachtnistatigkeit/Joachim Hoffmann. -
Berlin; Heidelberg; New York: Springer, 1983.
ISBN-13: 978-3-642-68842-3 e-ISBN-13: 978-3-642-68841-6
DOl: 10.1007/978-3-642-68841-6
© 1983 VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften
Softcover reprint of the hardcover 1St edition 1983
Meinem Lehrer
Prof. Dr. Friedhart Klix
gewidmet
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ..................... . 8
I. Elementare Prozesse der Bedeutungserkennung . . . . . . . . 12
1.1. Die Arbeitsweise und Funktion des Ultrakurzzeitgedachtnisses 14
1.1.1. Parallele oder sequentielle Verarbeitung von Reizstrukturen 18
1.1.2. Die Merkmalserfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 21
1·1.3· Kontrollierte oder automatische Verarbeitung im UKZG 24
1.1.4· Zur Zeitcharakteristik der Bedeutungserkennung 28
1.2. Die Kodierung von akustischen Reizstrukturen ~I
Die Kodierung von Bildern . . .
1·3· 34
1·4· Die Kodierung von Worten . . . 40
1.5· Die Kodierung von Bewegungen 43
2. Die Reprasentation von Informationen im Gedachtnis 48
2.1. Zur Existenz einer semantischen Reprasentation . . . 48
2.2. Die Repdisentation von Begriffen im menschlichen Gedachtnis 52
2.2.1. Die Mengenreprasentation von Begriffen . 55
2.2.2. Die Prototypreprasentation von Begriffen . . . 60
2.203- Die Merkmalsreprasentation von Begriffen . . . 68
2.2·4· Begriffliche Reprasentationsformen im Vergleich 82
2.J. Die Reprasentation semantischer Relationen . . 84
2.J.I. Die prozessuale Reprasentation von semantischen Relationen 88
2.3.2. Die faktische Speicherung von semantischen Relationen 94
2·3+ Was wird wie reprasentiert? .............. . 107
Die anschauliche Reprasentation von Informationen im Gedachtnis . III
Zum Einfluf3 der Anschaulichkeit auf Behaltensleistungen iiber
sprachlichem Material . . . . . . . . . .. ... . . . 113
p. Die Reprisentation raumlicher Beziehungen im Gedachtnis - ihr
Einfluf3 auf Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . . .
Die aufgaben- und personenabhangige Nutzung anschaulicher Re-
prasentationen ........................ .
126
Transformationen und Operationen in der anschaulichen Vorstel-
lung .............................. . 136
Faktische oder prozessuale Speicherung anschaulicher Vorstellungen . 142
3.6. Anschauliche oder semantische Repriisentation? Eine Zusammen-
fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • 146
4. Die semantische Kodierung . . . . . . . I ~o
4.1. Die begrifHiche Kodierung . . . . . . . I ~ I
4. I. I. Die begrifIliche Kodierung von Objekten I 51
4.1.2. Die Erkennung von Wortbedeutungen . 159
+
4. I Die Beeinflul3barkeit von begrifIlichen Kodierungsprozessen 162
4.2. Das Phiinomen der Kodierungsvariabilitiit 168
4.2.1. Kontextabhiingige Kodierung . 168
4.2.2. Handiungsabhiingige Kodierung 177
~. Organisation und Gediichtnis . . . . . . . . . . . . . 183
5'1. Grundprinzipien der Organisation von Informationen . 183
~ .2. Die semantische Organisation riiumlicher Reizstrukturen 187
5+ Die semantische Organisation von W ortlisten . . . . . 195
5.4. Die semantische Organisation von Geschichten . . . . . 203
5. ~. Die Funktion des Kurzzeitgediichtnisses im ProzeG der semantischen
Organisation ........................... 2I I
6. Die Erzeugung neuer Informationen im Gedachtnis . . . . . . . . 2 I 7
6. I. Die Integration von Informationen ais QueUe von natiirlichen In-
ferenzen ............................. 2 I 8
6.2. Die Ergiinzung von Informationen ais QueUe von natiirlichen In-
ferenzen .......................... 2 2 ~
6.3. Kognitive Transformationen ais QueUe natiirlicher Inferenzen 229
6·4. Schlul3betrachtung...................... 234
Literaturverzeichnis
7
Vorwort
Es soIl Ton geben, der eine merkwiirdige Eigenschaft aufweist. Driickt man in eine
noch frische Tontafel beispielsweise mit dem Daumen eine Vertiefung ein, die man
gleich darauf wieder glattstreicht, dann wird diese Vertiefung nach dem Brennen des
Tones wieder deutlich sichtbar. Die Tontafel ist also in der Lage, einen vergangenen
und wieder voriibergegangenen Zustand iiber einen langeren Zeitraum hinweg so zu
bewahren, daB er unter bestimmten Bedingungen in seinen wesentlichen Eigenschaften
reproduziert werden kann. In den meisten der vorliegenden psychologischen Definitionen
wird "Gedachtnis" im wesentlichen als die Fahigkeit definiert, vergangene Ereignisse
nach einer Behaltenszeit mehr oder weniger originalgetreu zu reproduzieren. Nach die
ser Definition besitzt die Tontafel im psychologischen Sinne ein Gedachtnis. Wiirde
man diese Aussage dahingehend zuspitzen, daB man behauptet, die Tontafel habe ein
Gedachtnis wie ein Mensch oder umgekehrt, das menschliche Gedachtnis gieiche dem
der Tontafel, dann ware zu Recht stiirmischer Protest zu erwarten.
Trotzdem muB man feststeIlen, daB das menschliche Gedachtnis iiber viele Jahr
zehnte hinweg in kaum einer anderen Leistung untersucht wurde als der des einfachen
Reproduzierens vergangener Ereignisse. Untersuchungsgegenstand war also das Ge
dachtnis als Medium der Bewahrung und Wiedergabe von "Eindriicken", als statischer
Speicher, in den man Informationen hineingibt und aus dem Informationen nach lan
gerer Zeit auch wieder abgerufen werden konnen.
1m vorliegenden Buch wird ein grundsatzlich anderer Standpunkt eingenommen. Das
Gedachtnis wird nicht als gesonderte Leistung betrachtet, sondeen als Teil derjenigen
Prozesse, die auf die Widerspiegelung der Umwelt in unserem BewuBtsein gerichtet
sind und die wir zusammenfassend aIs kognitive Prozesse bezeichnen. In diesem Sinne
ist das Gedachtnis keine separierbare Leistung zur Reproduktion oder Wiedererken
nung von Informationen, sondeen ein notwendiger Bestandteil der Widerspiegelungs
tatigkeit. Oder anders gesagt: Nach unserer Auffassung verfiigt der Mensch nicht iiber
ein Gedachtnis, damit er einmaI aufgenommene Informationen wiedergeben kann, son
deen damit er iiberhaupt auf effektive Weise Informationen iiber seine Umwelt auf
nehmen kann.
Warum erfordert eine effektive Informationsaufnahme die Fahigkeit zur Speicherung
von Informationen? Wir sehen im wesentlichen zwei Griinde. Zum ersten muB daran
gedacht werden, daB unsere Umwelt ja immer nur mit kleinen aktueIIen Ausschnitten
zeitlich nacheinander auf uns einwirkt. Urn diese zeitlich auseinanderliegenden Wir
kungen zu einem geschlossenen Abbild unserer Umwelt zu integriereo, mussen zuruck
Iiegende Einwirkungen in ihren Effekten zur Verfugung gehalten werden, urn mit nach-
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folgenden Einwirkungen in Verbindung gebracht werden zu konnen. Die zweite Not
wendigkeit fur Informationsspeicherung ergibt sich aus der Zielstellung informations
verarbeitenden Verhaltens. Unser Zentralnervensystem hat sich als informationsverar
beitendes System entwickelt, um unser Verhalten so steuern zu konnen, daB erwunschte
Zielstellungen erreicht und unangenehme Konsequenzen vermieden werden konnnen.
Wenn die Informationsaufnahme aber untrennbar mit der Steuerung des Verhaltens
verbunden ist, dann mussen die gemachten Erfahrungen uber im weitesten Sinne anzu
streb en de oder zu meidende Verhaltensweisen so gespeichert werden, daB sie fur die
nachfolgende Steuerung des Verhaltens erfolgreich genutzt werden konnen. Die Infor
mationsspeicherung ist hier, kurz gesagt, an die Notwendigkeit von Lernprozessen ge
bunden.
Eine effektive Gestaltung des Informationsaustausches zwischen Mensch und Umwelt
ist also ohne die Pahigkeit zur Informationsspeicherung nicht zu denken. Diese enge
Bindung der menschlichen Gedachtnistatigkeit an die Prozesse der Informationsverar
beitung bewirkt markante Unterschiede zu den "Gedachtnisleistungen" der besproche
nen Tontafeln. So werden im menschlichen Gedachtnis die gespeicherten Informationen
nach ihrer Brauchbarkeit oder Nutzlichkeit fur die Steuerung des Verhaltens bewertet,
und sie werden entsprechend dieser Bewertung in unterschiedlichem Grade zur Verfu
gung gehalten. Die Aufnahme von Informationen in das menschliche Gedachtnis er
folgt selektiv. Nicht aile Eindrucke werden bewahrt und gespeichert, sondern nur die
je nigen, die fur die Verhaltenssteuerung Bedeutung besitzen. U nd schliemich erfolgt
die Speicherung der Eindrucke integrativ in einem die objektiven Zusammenhange
widerspiegelnden Ganzen und nicht isoliert voneinander und einzeln. Das menschliche
Gedachtnis ist in keiner Weise vergleichbar mit der beschriebenen Tontafel. Die Ton
tafe! ist ein pas siver Speicher, das menschliche Gedachtnis dagegen ahive Tatigkeit.
Diesem Grundgedanken ist das vorliegende Buch verpflichtet. Es beschreibt in 6
Kapiteln aktuelle Vorstellungen uber die Arbeitsweise derjenigen kognitiven Prozesse,
die den beobachtbaren Gedachtnisphanomenen vermutlich zugrunde liegen.
1m ersten Kapite! werden e1ementare Mechanismen der Informationsaufnahme be
sprochen, dabei wird auf die Leistungseigenschaften des Ultrakurzzeitgedachtnisses ein
gegangen. Die beiden nachfolgenden Kapitel wenden sich den Problemen der lang
fristigen Speicherung von aufgenommenen Informationen zu und erarbeiten damit Vor
aussetzungen, um im vierten Kapitel das Problem der Aufnahme von Information er
neut zu diskutieren. 1m Gegensatz zum ersten Kapitel stehen jetzt jedoch die Einflusse
im Vordergrund, die bestehender Gedachtnisbesitz auf die Informationsaufnahme aus
iibt. Das funfte Kapitel behandelt Phanomcne der Integration von Informationen im Ge
dachtnis und das sechste Kapitel schliemich betont noch einmal den aktiven Charakter
der menschlichen Gedachtnistatigkeit, indem auf Mechanismen zur Erzeugung neuer
Informationen im Gedachtnis eingegangen wird. Die DarstellUng ist an der psychologi
schen Grundlagenforschung orientiert. Es werden theoretische Vorstellungen, Oberle
gungen und vor allem experimentelle Untersuchungen zur Analyse von Grundfunktio
nen des menschlichen Gedachtnisses dargestellt. In die Darstellung sind dabei durchaus
wesentliche Aspekte der psychologischen Analyse der menschlichen Gedachtnistatigkeit
nicht mit einbezogen worden. So werden individuelle Besonderheiten der Gedachtnis
tatigkeit, Probleme ihrer entwicklungsabhangigen Veranderung und auch die neuro
physiologischen Grundlagen des menschlichen Gedachtnisses nicht behandelt. Die· Aus
fuhrungen konzentrieren sich auf die allgemeinpsychologische Analyse von grundsatzli-
9
chen Leistungseigenschaften der menschlichen Gedachtnistatigkeit yom Standpunkt der
kognitiven Psychologie.
Dariiber dad nicht vergessen werden, daB mit dem menschlichen Gedachtnis ein
Bereich psychischer Zusammenhange untersucht wird, der fur weite Gebiete der An
wendung psychologischen Wissens von hervorragender Bedeutung ist. Es ware beispiels
weise sicher von gro6em Wert fur die padagogische Praxis, konnten wir fiir beliebige
zu vermittelnde Lehrstoffe in verbindlicher Weise angeben, in welchen Teilabschnitten,
in welcher Folge, in welchem Zusammenhang usw. sie dargeboten werden mussen, um
mit geringem Aufwand gut verstehbar und sicher reproduzierbar zu sein. Um dieses
Problem zu losen, brauchen wir jedoch genaue Kenntnisse, u. a. uber die GesetzmaBig
keiten der Organisation und Reproduktion von Informationen im menschlichen Ge
dachtnis. Es ware weiter von hohem praktischen Nutzen, konnten wir in genauer, nach
machbarer Weise angeben, nach welchen GesetzmaBigkeiten die Speicherung der unend
lich vielen Informationen, die im Laufe eines individuellen Lebens angesammelt wer
den, so erfolgt, daB in der Regel die benotigte Information auch bei wechselnden An
forderungen schnell und sicher zur Vedugung steht. Schon die heutigen technischen
Moglichkeiten wiirden uns die Mittel in die Hand geben, um solche Speicher kunstlich
nachzugestalten. Eine genaue Kenntnis der Grundbausteine des Gedachtnisses, der
Moglichkeiten ihrer Verkniipfung, der Prozesse ihrer Reproduktion usw. ist dafur unbe
dingte Voraussetzung. Es ware auch von praktischer Bedeutung, konnten wir heute
schon im Detail die Mechanismen beschreiben, die unser Zentralnervensystem in die
Lage versetzen, aus dem Gedachtnis heraus anschauliche Vorstellungen so zu erzeugen,
daB wir den Eindruck von tatsachlichen Wahrnehmungen haben. Es ist gut begriind
bar, daB die Fahigkeit zur anschaulichen Vorstellung kreative Denkleistung stark
begiinstigt. Die genaue Kenntnis von Mechanismen der Ausbildung anschaulicher Vor
stellungen konnte uns besser als bisher in die Lage versetzen, Voraussetzungen und Be
dingungen zur Forderung kreativer Denkleistungen zu schaffen. Diese genannten Bei
spiele moglicher Anwendungen von Erkenntnissen der gedachtnispsychologischen
Grundlagenforschung lieBen sich fast beliebig erweitern. Wir wollten hier lediglich
deutlich machen, daB die Realisierung solcher Anwendungen von der Genauigkeit und
der Detailliertheit unserer Kenntnisse abhangt. Feststellungen wie z. B. die, daB unser
Gedachtnisbesitz organisiert ist, daB anforderungsabhangig Informationen unterschied
Iich schnell reproduziert werden oder daB sich Personen in ihrer Fahigkeit zur anschau
lichen Vorstellung unterscheiden, genugen noch nicht, um daraus wirklich effektive Lo
sungen fiir praktische Fragen abzuleiten. Wir mussen immer auch angeben konnen,
warum solche Zusammenhange beobachtbar sind und durch welche Prozesse sie ver
mittelt werden. Die manchmal schwer einsehbare Diffizilitat so mancher Grundlagen
untersuchung ist durch dieses Streben nach einer moglichst genauen Kenntnis der
Sachverhalte bestimmt.
Wir haben die Anwendungsbeispiele als Moglichkeiten formuliert, um deutlich zu ma
chen, daB in vielen Fallen unsere Kenntnisse noch nicht ausreichen, um sie auch tat
sachlich zu realisieren. In den letzten Jahren sind ;edoch bedeutende Fortschritte in der
psychologischen Behandlung von menschlichen Gedachtnisleistungen gemacht worden.
Von diesen Fortschritten soli dieses Buch berichten. Die dabei vertretenen Auffassungen
und die jeweils dokumentierte Problemsicht sind in der experimentellen Arbeit und
in den Diskussionen einer Arbeitsgruppe entstanden, die sich seit etwa 1972 unter Lei
tung von Prof. Dr. F. KLIX an der Sektion Psychologie der Humboldt-Universitat zu
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