Table Of ContentNicola Vollkommer
Am Rande der gefrorenen Welt
Die Geschichte von John Sperry,
Bischof der Arktis
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ISBN 978-3-7751-7083-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5307-2 (lieferbare Buchausgabe) Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg © der deutschen Ausgabe 2011
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Witten.
Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen
Titelbild: shutterstock.com; fotolia.com
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Vorwort
In meiner Kindheitsbiografie »Unter dem Flammenbaum« habe ich die
abenteuerliche Geschichte meiner eigenen Eltern erzählt. Doch in der Familie
meines Vaters gibt es noch jemanden, dessen Geschichte auf keinen Fall
verloren gehen darf: Onkel »Jack« Sperry, Pionier und Missionar in der Arktis.
Schon als Kind hörte ich fasziniert zu, wenn er von seinem Leben »am Rande
der gefrorenen Welt« erzählte.
Hier ist also seine Geschichte, die Geschichte des Bruders.
In der Welt der Kirchenprominenz, in der mein Onkel als dritter »Bischof der
Arktis« und Leiter der größten Diözese der anglikanischen Kirche weltweit
wirkte, hießen er und seine Frau »the Right Reverend and Mrs John Reginald
Sperry«. Für mich waren sie »Uncle Jack and Auntie Betty«. Der Lebensweg
meines Vaters, Roy Sperry, der jüngere Bruder von Jack, hätte schon im Blick
auf das Klima nicht kontrastreicher sein können als der seines Bruders. Während
die »Sperry Family« des Älteren in der Eiseskälte unter der Mitternachtssonne
fror, schwitzte die »Sperry Family« des Jüngeren in den heißen Steppen
Nordnigerias, wo Roy als Geschäftsmann arbeitete. Lange Trennungen taten
dem Familienzusammenhalt und der Freundschaft zwischen den beiden Brüdern
wie auch zwischen deren Kindern keinen Abbruch. Heimaturlaube wurden so
organisiert, dass wir uns immer wieder in der Heimatstadt der Familie Sperry, in
Leicester in Mittelengland, trafen, wo »Uncle Jack« die kleine Kinderschar mit
seinen Geschichten über die Eskimos in seinen Bann zog.
Im heutigen Sprachgebrauch ist der Begriff »Eskimo« eher verpönt, ist er
doch ein Fremdausdruck, der von manchen arktischen Völkern als
diskriminierend abgelehnt wird. Offiziell bezeichnen sich manche Völker heute
als »Inuit«. Ich habe mich aber entschlossen, die Bewohner der Arktis bewusst
mit dem zum Zeitpunkt der Geschichte üblichen Begriff »Eskimo« zu
bezeichnen, um die Authentizität zu wahren. Und »Eskimo« ist außerdem der
einzige Begriff, der alle Völker der Arktis einschließt. Erst gegen Ende des
Buchs passe ich mich semantischen und politischen Entwicklungen der sich
ändernden Zeiten an.
In seiner ursprünglichen Form ist das Wort »Inuit« ein allgemeiner Begriff für
»lebendige Menschen«. Als Jack die Bibel in den Dialekt seiner
Gemeindemitglieder übersetzte, verwendete er das Wort »Inuit« für
»Menschenmengen«. Bei der Brotvermehrung wurden deshalb zwar 5 000
»Inuit« satt, diese saßen aber nicht nach einer harten Jagd im Robbenrevier in
Karibufellen auf dem Berg.
»Die Eskimos heißen die Eskimos«, ist Jacks trockener Kommentar zu der
»Die Eskimos heißen die Eskimos«, ist Jacks trockener Kommentar zu der
Kontroverse um Bezeichnungen, »genauso wie die Deutschen Deutsche heißen.
Ich kenne keinen Eskimo, der ein Problem damit hat.« Die junge Generation der
Kanadier hat wohl eine andere Einstellung zu dieser heiklen Frage.
Mein Dank gilt meinem Cousin John Sperry Junior, der mit seinen Briefen
seine außergewöhnliche Kindheit am Polarkreis direkt auf meinen Schreibtisch
transportierte. Mein Vater Roy Sperry lieferte Details über die Kindheit der
beiden Brüder im Arbeiterviertel der Großstadt Leicester und über den
Kriegsalltag im England der Vierzigerjahre. Weggefährten meines Onkels wie
die Reverends Geoffrey Dixon, Mike Gardener und Terry Buckle standen willig
und humorvoll mit Informationen über die Kultur und Sprache der Inuit als auch
über ihre Begegnungen und Zusammenarbeit mit Uncle Jack während seines
Bischofsamts bereit. Meine Cousine Angela Friesen, Tochter von Jack, saß
stundenlang mit einem Aufnahmegerät bei ihrem betagten Vater, inzwischen von
Blindheit und einem Schlaganfall geschwächt, und bewegte ihn, seine
Erinnerungen für zukünftige Generationen festzuhalten. Die vereinten Mühen all
dieser lieben Menschen lieferten das Material für diese Geschichte.
Die Briefe meines Onkels sind zum Teil nicht wörtlich zitiert, sondern aus
Protokollen unserer Gespräche rekonstruiert. Ebenso wie bei den
Tagebucheinträgen war ich manchmal auf seine Erinnerungen angewiesen. Viele
beschriebenen Erlebnisse und Abenteuer sind aus verschiedenen Quellen
zusammengetragen und bündeln Ereignisse, die zu verschiedenen Zeitpunkten
stattfanden. Als Hauptquelle diente mir das Buch »Igloo Dwellers were my
Church« (Bayeux Arts Inc., 2001) meines Onkels sowie die Titel »Echoes from
a Frozen Land« (Hurtig Publishers, 1987) von Donald B. Marsh und »Archibald
the Arctic« von Archibald Lang Fleming (Hodder & Stoughton, 1957),
besonders was die Beschreibungen des Klimas, der Flora und Fauna der Arktis
betrifft. Ich habe außerdem einige Namen von Einheimischen und anderen
Freunden geändert, um ihre Identität zu schützen.
Uncle Jack kann sich nicht mehr an jedes Detail, das in diesem Buch
beschrieben ist, erinnern. In diesen Fällen habe ich nach bestem Wissen und
Gewissen aus den Erinnerungen anderer geschöpft. Ich danke allen
Familienmitgliedern und Freunden, die mir dabei geholfen haben.
Vor allem aber danke ich meinem Uncle Jack selbst und seiner inzwischen
verstorbenen Frau Betty, die für mich schon immer nichts Geringeres als Helden
waren.
Nicola Vollkommer
Reutlingen
März 2011
März 2011
Prolog
»Wenn du einem Kind etwas über Gott beibringen möchtest, dann liest du ihm
Bibelgeschichten vor oder nimmst es in einen Kindergottesdienst mit«, sagt John
Sperry Junior, wenn er nach den prägendsten Erinnerungen an seine Kindheit in
der Arktis gefragt wird. »Wenn du ihm die Größe Gottes sichtbar demonstrieren
möchtest, erlebe mit ihm zusammen den magischen Moment, wenn die arktische
Sonne in ihrer betörenden Farbenpracht unter den Horizont sinkt. Erzähle ihm,
dass Gott sich für seine Sonnenuntergänge in der Arktis besonders viele
Gedanken macht. Zeige ihm, wie die Wolken, die sich über den ganzen Himmel
hinstrecken, lichterloh zu brennen scheinen, wie sich dieses vielfarbige
Schauspiel in ausgedehnten, glatt gefrorenen Wasserflächen widerspiegelt, die
so still sind, dass sie wie riesige Glasscheiben aussehen.«
Der Polarkreis, in dessen Nähe John und seine Schwester Angela ihre ersten
Lebensjahre verbrachten, liegt bei 66° 30' nördlicher Breite. Auf dieser
unsichtbaren Linie bleibt die Sonne am kürzesten Tag des Jahres, dem 21.
Dezember, komplett unter dem Horizont, und umgekehrt, am 21. Juni, dem
längsten Tag des Jahres, 24 Stunden lang über dem Horizont. Wegen der
Neigung der Erdachse erlebt das Land oberhalb des Polarkreises permanentes
Tageslicht im Sommer und permanente Dunkelheit im Winter.
Die sogenannte »Arktis« lässt sich geografisch nicht genau definieren. Sie
umfasst die Polarregion nördlich des Nördlichen Polarkreises, schließt aber auch
Yukon, Südgrönland und Teile Alaskas ein, die südlich vom Polarkreis liegen.
Diese riesigen Schneeflächen, nicht ohne Grund als »Barrenlands«
(»unfruchtbare Länder«) bezeichnet, liegen nördlich der Baumgrenze, südlich
derer dicht bewaldete Gegenden den oberen Rand der sogenannten »nemoralen
Zone« (»temperate zone«) wie einen Mantel einhüllen und sich von Alaska bis
Quebec erstrecken. Diese inoffizielle Zickzack-Grenze verläuft vom
nordwestlichen Rand des Mackenzie-Deltas nach Osten bis zur südlichen Küste
der Hudson Bay. Für den Reisenden, der das Glück hat, diesen entlegenen Teil
der Erde zu besuchen, entfaltet sich ein atemberaubendes und majestätisches
Panorama, das auf den ersten Blick alles andere als unfruchtbar wirkt.
Anschwellende Kurven von Bergketten wechseln sich mit gewaltigen Gletschern
ab und werfen ihre Schatten auf die grenzenlosen Flächen an den Arktis-und
Hudson-Bay-Küsten. Im Sommer schneiden brausende Flüsse und rauschende
Wasserfälle tiefe Gräben in die felsige Landschaft. Im Winter verwandelt sich
alles in ein regungsloses, aber bezauberndes Kunstwerk in verschiedenen
Schattierungen von Weiß und Blau.
Ein einziger Blick auf diese Landschaft aus Eis und Schnee genügt, um dem
Betrachter das Gefühl zu geben, dass hier selbst Zeit und Geschichte eingefroren
sind. Er spürt aber nicht die apathische, vom Tod umschlungene Schweigsamkeit
eines Friedhofs, sondern die Magie einer hellwachen, brütenden, aggressiven
Stille. Als ob alle Uhren stehen geblieben wären, aber jeden Augenblick wieder
anfangen würden zu ticken. Die schneidende Kälte ist mehr als nur ein Wert auf
einem Thermometer. Sie lebt und lauert. Sie wacht erbarmungslos über
Spielregeln, denen sich zu widersetzen den sofortigen Tod bedeuten kann. Sie
beißt um sich, ihre unsichtbaren, eisigen Finger auf der unerbittlichen Suche
nach Beute, die sie innerhalb von Sekunden in einen erstarrten Kadaver
verwandeln kann. Dass Tiere oder Menschen hier leben können, scheint
unvorstellbar. Aber dass die Menschen, die tatsächlich jahrhundertelang in
dieser grausamen Kälte ausgeharrt haben, von einer panischen Angst vor
feindseligen Göttern getrieben sind, ist nachvollziehbar: Götter, die ihrer
Vorstellung nach hochragende Eisberge, wilde Schneestürme und tiefgefrorene
Gewässer bewohnen. Der traditionelle Abschiedsgruß in dieser Umgebung war
in früheren Zeiten nicht »Auf Wiedersehen«, sondern »Falls wir uns
wiedersehen«.
Namen auf der Landkarte sind dort nicht bloß Navigationshilfen für wilde
Abenteurer, die verrückt genug waren, sich auf diese barbarische Einöde
einzulassen. Sie erzählen endlose Geschichten unvorstellbaren menschlichen
Leides: »Starvation Cove« (Hunger-Bucht), »Desolation Island« (Insel der
Trostlosigkeit), »Bay of Hollow Cheeks« (Hafen der Hohlen Wangen). Und am
schauerlichsten: »Place of Eating Human Flesh« (Ort, an dem man
Menschenfleisch isst).
Dieses Buch erzählt von außerordentlichen Menschen, den Eskimos, wie man
sie lange nannte. In der Unbewohnbarkeit des hohen Nordens Kanadas und
großen Widrigkeiten zum Trotz bauten sie sich ein Zuhause. Nicht weil sie es so
wollten, sondern weil sie keine andere Möglichkeit hatten. Dieses Buch ist auch
die Geschichte eines ebenso außerordentlichen Ehepaares, das sich entschied, ihr
Leben mit diesen Menschen zu teilen, ihre Sprache zu lernen, ihre eigene
Familie mitten in der Eiswüste zu gründen, Teil dieser zu Eis gefrorenen
Erdgeschichte zu werden, und hier alt zu werden. Dieses Leben war gleichzeitig
der Versuch, ein Denkmal für eine Welt zu setzen, die es nicht mehr gibt. Denn
Schneehäuser gehören inzwischen der Vergangenheit an und sind nur noch Stoff
für Nostalgie. Als John Sperry dem Lockruf der Arktis nicht mehr widerstehen
konnte und sich dorthin aufmachte, ahnte er, dass er auch den Untergang genau
jener Kultur miterleben würde, die er so sehr ins Herz geschlossen hatte. Das
Inuitvolk blieb aber seine große Liebe, auch als er es als dritter »Bishop of the
Arctic« zu großem Ansehen gebracht hatte und sich mit der höchsten Prominenz
Arctic« zu großem Ansehen gebracht hatte und sich mit der höchsten Prominenz
Kanadas auf Augenhöhe befand.
Einer seiner Vorgänger im Bischofsamt sagte einmal: »Auch wenn die Arktis
eine kalte und grausame Welt ist, gibt es nichts Wärmeres als den Handschlag
eines Eskimos.« Diese Worte machte John Sperry zu seinem Leitbild.
Ein Interview; ein Jubiläum und ein geheimnisvolles
Land
Es war im Frühsommer des Jahres 2006. Die Reporterin der Canadian
Broadcasting Company hatte ihr Skript bestens geprobt.
»Die Stadt Kugluktuk ist im Vergleich zu den Fünfzigerjahren kaum
wiederzuerkennen. Sie hatte damals sogar einen anderen Namen: Coppermine.
Ein halbes Dutzend Familien, Polizisten, die nichts zu tun hatten: Das waren ihre
Bewohner. Es war eine ganz andere Welt als die Großstadt in England, in der
John Sperry aufwuchs. Und ganz anders als die Stadt Kugluktuk heute.«
Professionell und mit einer ausdrucksstarken Stimme trug sie ihren Text vor.
Jubiläen und Festtage für die kanadische Bevölkerung zu kommentieren war für
sie Routine. Es war nicht ihr erstes Interview mit dem Bischof der Arktis, John
Reginald Sperry. Sein Leben und Wirken faszinierte sie seit Jahren.
»John Sperry, der später Bischof der Arktis wurde, kam im Jahr 1950 als
Missionar nach Kugluktuk. Allein der Flug kostete ihn fast sein Leben. Er blieb
ganze 19 Jahre. Am kommenden Wochenende fliegt er dorthin zurück, wo alles
anfing. Denn die Stadt feiert ihren 80. Geburtstag. Bischof Sperry und sein Sohn
John sind als Ehrengäste eingeladen. Gestern hatte ich das Vorrecht, mit dem
Bischof zu reden.«
Auch für den Bischof waren solche Interviews Routine. Es ging schließlich
um ein Thema, über das er stundenlang erzählen konnte. In den 20 kurzen
Minuten des Gesprächs streifte er die wichtigsten Eckpunkte seines
ereignisreichen Lebens und knüpfte zwischen den großen Unterschieden von
damals und heute faszinierende Verbindungen.
Erst wenige Tage davor war er 82 Jahre alt geworden. Diese Gelegenheit, auf
eine Kultur zurückzublicken, die es in der ihm vertrauten Form nicht mehr gab,
erweckte in ihm gemischte Gefühle.
»Und wie geht es Ihnen dabei, Bischof?«, fragte die Reporterin gegen Ende
des Interviews. »Sie sehen den gleichen Fluss, den gleichen Ozean, aber eine
völlig andere Ortschaft, von Menschen bewohnt, die auf Motorschlitten
herumfahren, in Büros arbeiten und in modernen Häusern leben!«
»Der damalige Lebensstil ist zwar verschwunden«, antwortete der Bischof
nachdenklich, »aber die Menschen leben und gedeihen. Und es ist meine
Überzeugung, dass Gott in erster Linie mit Menschen Geschichte schreibt und
nicht mit Kulturen oder geografischen Ortschaften.«
»Haben Sie Ihre Entscheidung, die besten Jahre Ihres Lebens sozusagen am
äußersten Rand der Welt zu verbringen, jemals bereut, Bischof?«
»Niemals!«, war die Antwort, die er auf diese Frage immer gab. »Es wäre für